Halrun Reinholz

zum Buch: In zehn Minuten reisen wir ab...


„Einmal sollte man seine Siebensachen/ Fortrollen aus diesen glatten Gleisen./ Man sollte sich aus dem Staub machen/ Und früh am Morgen unbekannt verreisen“. Diese Verse von Mascha Kaléko schickt Ilse Hehn ihren Reiseimpressionen von der Insel Samos voraus, sie könnten aber auch als Motto des gesamten Buches figurieren, das die Autorin ihrer Mutter, „der Träumerin“, widmet. Die in Lovrin im Banat geborene Ilse Hehn gehört der Nachkriegsgeneration der Banater Schwaben an, die im kommunistischen Rumänien den Traum vom Reisen als Inbegriff der Freiheit träumte. Als bildende Künstlerin wie als Schriftstellerin war sie bereits in Rumänien bekannt, die Reisewünsche konnte sie wohl erst nach ihrer Übersiedlung 1992 verwirklichen.

Wie sensibel und lustvoll die Reisende ihre Ziele erlebt, kann der Leser in dem aktuellen Band, der Reiseberichte von 1999 bis 2004 enthält, mit großem Vergnügen nachvollziehen. Bereits auf dem Titelbild schaut ihm die Autorin mit verschmitzt erhobenem Zeigefinger entgegen, apostrophiert und imitiert jedoch dabei nur eine Skulptur, neben der sie steht. Ähnlich witzig und ironisch sind auch viele der Impressionen, die sie auf ihren Reisen gesammelt hat. Ob in Frankreich oder in Lappland, in Amsterdam, Schottland oder am Nordkap, in Italien, wohin sie öfters reiste, oder auf den Griechischen Inseln – Ilse Hehn sieht bei aller Überwältigung auch die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit: Erlebter Touristen-Alltag kontrastiert immer wieder mit dem Bild, das die Reisende im Hinterkopf ihrer kulturhistorischen Bildung gespeichert hat: “Die Wirklichkeit ist eine Falle. Ich sinke tief ins Reale.“ Gerade in Italien, das ihr als Hort abendländischer Kultur und Kunst besonders viel bedeutet, ist der Beigeschmack des gnadenlosen touristischen Ausverkaufs besonders bitter: „Jetzt lümmeln sie in Liegestühlen, haben sich gute Laune hinters Ohr gesteckt und erwarten den Sonnenuntergang wie auf einer Bühne.“

Doch es ist letztlich nicht die (sicher teilweise vorhersehbare) Enttäuschung, die Ilse Hehns Reisebilder prägt, sonder die – durchaus augenzwinkernde - Freude an der Beobachtung. Tagebuchartig hält die Dichterin ihre Eindrücke fest, zuweilen auch in Form von Gedichten. Und die bildende Künstlerin tritt, die Texte ergänzend, mit Collagen und gemalten Impressionen häufig in Erscheinung, sie beobachtet genau und bewusst, was in ihr Blickfeld gerät. Auch ihrer Vergangenheit weicht sie nicht aus – wer sonst besucht in Capri eine Gedenk-Stele für Lenin, der hier mit Gorki „Schach gespielt und Champagner getrunken hat, bevor er die Russische Revolution anzettelte“. Für sie werden hier Erinnerungen an die „Überwachungszentrale“ lebendig, in der sie gelebt hat: „Ein obsessives Panoptikum.“

So mag das Buch von Ilse Hehn all jenen erbauliche Lektüre sein, die selbst gern mit offenen Augen durch die Kunstgeschichte schweifen – reell oder virtuell. Die Sehnsucht der Reiselustigen wird durch die Lektüre nicht gestillt, aber die Träume erhalten eine andere Dimension und können bei Bedarf umgesetzt werden. Und für die, die sich nicht selbst auf den Weg machen wollen, hat Ilse Hehn ein wunderbares Panorama an Gedanken, Wahrnehmungen und Bildern zu bieten.

 

Halrun Reinholz