"Randgebiet"
„Mit Ilse Hehn lebt eine große Dichterin in der
Stadt“, war in der Oktober-Ausgabe 2007 des Ulmer Stadtmagazins »SpaZz«
zu lesen. Die aus dem Banat stammende und seit ihrer Aussiedlung aus
Rumänien im Jahr 1992 in der Donaustadt wirkende Schriftstellerin,
bildende Künstlerin, Fotografin und Kunstdozentin ist in der Ulmer
Literatur- und Kunstszene durch ihre Lesungen, Ausstellungen und ihre
Tätigkeit als Kunstpädagogin weithin bekannt. Allein in diesem Jahr
beteiligte sie sich in ihrer Wahlheimat an einer Lesung Ulmer Autoren in
der Gondrom-Buchhandlung und präsentierte ihre Ausstellung
»Übermalungen«, zu der auch ein Katalog erschienen ist, in der Galerie
Peter Rau in Staig bei Ulm. Am 19. November 2010 hatte die Autorin zu
einer Buchvorstellung in die Galerie im Kornhauskeller der Ulmer
Kunststiftung Pro Arte eingeladen.
Bei dem in Form einer Lesung vorgestellten Buch
handelt es sich um ihren neuesten Lyrikband mit dem Titel »Randgebiet«.
Dieser im Temeswarer Cosmopolitan Art Verlag erschienene Band besticht
nicht nur durch seine exzellente Aufmachung und kunstvolle Gestaltung,
sondern auch durch die eher ungewohnte deutsch-japanische
Zweisprachigkeit. Für die Übertragung ins Japanische zeichnet die in
Japan geborene und in Frankfurt am Main lebende Germanistin Mieko
Schroeder verantwortlich. Die Dolmetscherin und Übersetzerin schreibt
selbst Haiku und Tanka (heute weltweit verbreitete traditionelle
japanische Gedichtformen) in japanischer und deutscher Sprache. Ähnlich
kurze Gedichte schrieb und schreibt mitunter auch Ilse Hehn. 42 davon,
„ältere, jüngere, allerjüngste, ganz im Gespräch miteinander“, hat sie
für diesen bilingualen Band ausgesucht.
Titelgebend ist ein Schlüsselwort aus dem Gedicht
„Nun“: „das Leben pendelt/ mein Lot streift Randgebiet/ Raum zwischen
den Buchstaben/ verheimlichte Heimat“. Für die Poetin bedeutet Heimat
der „Raum zwischen den Buchstaben“ und mit jeder neuen lyrischen
Kreation erobert sie sich diesen Raum aufs Neue. Knapp und lakonisch
kommen ihre lyrischen Notate daher; in einer bemerkenswerten
sprachlichen Verdichtung halten sie einen Gedanken, eine Beobachtung,
eine Empfindung fest, wobei die Autorin immer darauf bedacht ist, den
Dingen auf den Grund zu gehen, die Verhältnisse zu hinterfragen, einen
Blick auch hinter die Kulissen zu werfen. Vieles in ihren Kurzgedichten
findet sich nur angedeutet oder metaphorisch umschrieben, so dass der
Leser oder Zuhörer geradezu animiert wird, die Aussage und den tieferen
Sinn der poetischen Schöpfungen herauszufiltern.
Unter dem vielsagenden Titel „Umzäunt“ umfasst der
erste Teil des Bandes zwischen 1973 und 1993 in Rumänien entstandene
Gedichte. Er entfaltet sich, wie Balthasar Waitz in der „Banater
Zeitung“ vom 7. Juli 2010 befindet, „zu einer lyrischen Chronik eines
Lebensabschnitts, die Persönliches wie Gesellschaftliches verarbeitet“.
Gedichte wie „Umzäunt“, „Das tägliche Brot“, „Rumänischer Winter“ oder
„Parolen“ weisen Ilse Hehn als eine Autorin aus, die immer wieder den
Mut aufbrachte, die kommunistische Diktatur mittels der Macht des
Wortes auf eine äußerst subtile Art und Weise anzuschwärzen und sich
gesellschaftskritisch zu positionieren. Man muss nicht zwischen den
Zeilen lesen können, um beispielsweise die Aussage des Textes „Parolen“
richtig zu deuten: „in Reih und Glied stehen die Worte/ dicht gedrängt
gegen das Leben/ sie durchbrechen/ heißt alles“. Doch auch
Befindlichkeiten des individuellen Erfahrungsbereiches kommen zum
Tragen, wie beispielsweise im Gedicht „Risse“: „Die Risse im Fußboden /
beunruhigen mich / ich lebe einen Teppich darüber / und die Wärme /
beunruhigt mich“.
Der zweite Teil des Bandes beinhaltet in der
Zeitspanne 1993-2009 in Deutschland oder auf Auslandsreisen entstandene
Kurzgedichte. „Den Glanz abklopfen“ – wie ihr erster, 1998 in
Deutschland veröffentlichter Gedichtband – betitelt sich dieser Teil.
Ihren kritischen, sezierenden Blick auf die Wirklichkeit hat sich Ilse
Hehn auch im Westen bewahrt. In „Nicht zu vergessen“ mahnt sie: „den
Glanz abklopfen/ die Farben hinterfragen/ ansprechen den Tag und im/
Hinterhalt jeden Zweifel wach halten“. Dass die neuen Lebens- und
Erfahrungsräume ihren Niederschlag im lyrischen Diskurs finden, zeigen
die Gedichte jüngeren und jüngsten Datums, in denen Ilse Hehn neue
Tonlagen anschlägt und sich eines erweiterten Repertoires künstlerischer
Ausdrucksmöglichkeiten bedient: „Durch die Wände gedacht / aus mir
hinausgestellt / wo das Wort / nicht gesichert / wunderbar und sinnlos“
(„Nachts“) oder: „Allgegenwärtig der Stein/ einem gewaltigen Ungeheuer
gleich/ schmatzend speichelnd aus Milliarden/ Spalten Rissen Schluchten
treibt er Wasser aus / tief geritzt in seine Haut der eiskalte / Schliff
der Zeit“ (aus „Norwegische Skizze“).
Bei der Vorstellung des neuen Lyrikbandes »Randgebiet«
ließ Ilse Hehn ihre Gedichte selbst sprechen, wobei sie bei etlichen
der besseren Verständlichkeit halber auch den
politisch-gesellschaftlichen Kontext, sozusagen deren
Entstehungshintergrund erläuterte. Die ebenfalls anwesende Übersetzerin
Mieko Schroeder trug die japanischen Texte vor. Untermalt wurde die
Lesung mit Arbeiten der Malerin und Grafikerin Ilse Hehn. Die mittels
Computerpräsentation projizierten Bilder – es handelt sich um die dem
Gedichtband beigegebenen Grafiken und Collagen und um in der Ausstellung
»Übermalungen« gezeigte Arbeiten, die einer Symbiose zwischen Fotografie
und Malerei entsprungen sind – lehnten sich an die vorgetragenen Texte
an und verliehen der Lesung* eine besondere Note.
(* Lesung bei pro arte/ulmer Kunststiftung / Galerie im
Kornhauskeller, den 19. November 2010.)
Walter Tonţa |