Dr. Walter Engel

zum Buch: Heimat zum Anfassen oder: Das Gedächtnis der Dinge


Banatschwäbische Lebenswelt in trefflichen Bildern und Worten
Ein herausragendes Erinnerungsbuch von Ilse Hehn
 

Die Dichterin und bildende Künstlerin Ilse Hehn – eine bei den Banater Schwaben seltene, wenn nicht einmalige Doppelbegabung – überrascht immer wieder mit ihren originellen, ganz eigenwilligen Büchern, die in keine gängige Schublade passen. Im Wettstreit erscheinen zuweilen Bilder und Texte in ihren reich bebilderten Publikationen. Malerei und Grafik, Collage und Fotografie wechseln einander ab, Gedichte und kurze Prosa fügen sich ein. Ihr geradezu europäisches Reise-Kunstbuch „In zehn Minuten reisen wir ab...“ (2008) ist ein beredtes Zeugnis ihrer Weltläufigkeit und Experimentierfreudigkeit.

Und nun – mit ihrem neuen Buch, in dem ihre Fotografien und Collagen das Feld beherrschen - zurück in die heimatlichen Banater Gefilde, zurück zu den Wurzeln! Ist das ein Widerspruch? Ganz und gar nicht. Vielmehr scheint der weite Erfahrungshorizont der Autorin – die Banater Kindheit und Jugend selbstverständlich mit eingeschlossen – den Blick auch dafür freigemacht zu haben, „den persönlichen wie auch den geschichtlichen Raum hinter den Dingen zu sehen“, wie sie es im einführenden Text „Das Gedächtnis der Dinge“ formuliert. Sie lässt keinen Zweifel an der Intention des Buches. Es will „künstlerisch überformte Erinnerungsarbeit“ leisten und bietet eine „assoziative Geschichte Banater Lebens“ an. Im Grunde ist es ein Buch gegen das Vergessen einer bereits (halb)versunkenen banatschwäbischen Lebensart, ein künstlerisch anspruchsvolles, souveränes Unterfangen, Vergangenes in die Gegenwart zu retten und für die Zukunft zu bewahren, als einen besonderen heimatlichen Erinnerungswert .

So erzählen die von Ilse Hehn mit feinem Sinn für das Detail fotografierten Dinge aus dem dörflichen und wohl auch bürgerlichen Banater Alltag von den Lebensspuren der Generationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Blick gleitet in die banatschwäbische Innenwelt, in die „Geschichte der donauschwäbischen Häuslichkeit, der Arbeit und der Feste“ (Franz Heinz), zuweilen jedoch auch in traumatische Geschichtserlebnisse, die von den abgebildeten Dingen nur angedeutet werden. Sie mit eigener Vorstellungskraft und Erfahrung auszufüllen, oder mit erzählter Familienüberlieferung zu beleben, bleibt dem Betrachter selbst überlassen. Im Angebot dieser Freiheit an den Leser, ein eigenes Heimatbild zu gestalten, liegt eine besondere Stärke des Buches. Ganz vergönnt dürfte es nur noch den letzten Erlebnisgenerationen sein.

Motive des einfachen Lebens im banatschwäbischen Haus und in der Wirtschaft werden von Ilse Hehn mit sensiblem Gespür für die kulturgeschichtliche, ethnographische und nicht zuletzt für die heimatlich-emotionale Aussagekraft der Bilder ins Auge gefasst, ohne auf eine gewisse Sachlichkeit zu verzichten. Denn Sentimentalität gehört nicht zu ihrem Repertoire. Eine Abgrenzung in einzelne sachlich begründete Abschnitte strebt Ilse Hehn nicht an. Doch wird der Betrachter und Leser eingefangen von der stetigen Erweiterung der so farbintensiv abgebildeten Dingwelt in verschiedene Lebens- und Arbeitsbereiche, von der zunehmenden Vielfalt der Eindrücke und deren Ausweitung ins Symbolische – Zeit und Vergänglichkeit, Schönheit und Licht – sowie ins Historische – Krieg, Deportation und Auswanderung: vom Herd ins Haus, dann ins Dorf und Feld, schließlich in die Welt.

Zunächst stehen die unverzichtbaren Dinge des täglichen Lebens im Vordergrund: irdene Wasser- und Milchkrüge, Brotmulter (oder -mulder!) und Hausbrot, Sparherd und Mörser. Die Küche als Mittelpunkt bäuerlichen Lebens – neben der Arbeit, versteht sich! - erscheint geradezu leitmotivisch in Ilse Hehns Bildbänden. Ein Hohelied auf die Kochkunst bringen malerische Abbildungen zum Klingen: alte Rezepte und Kochbücher, Küchengeräte aller Art, auch ein „Paradeis-Passierer“. Der Radius wird erweitert durch typische Elemente der Lebensformen, die mitunter mit leicht ironischem Unterton oder verständnisvollem Augenzwinkern vermittelt werden. So war das halt: das Bett mit „Paradekissen“, der liebevoll geordnete Wäscheschrank, die sorgfältig gestickten Wandschoner mit nimmermüden Sinnsprüchen. Überhaupt die Handarbeiten, vom gestickten Taufkissen bis zum ausgebreiteten Makramee auf dem schönen Möbel. Dafür ist das offene Nähkästchen eine richtige Arbeitshilfe: Nadelkissen und Fingerhut, Zwirn und Zentimeter, Stopfei und Stopfpilz aus Holz usw., usf. Eine Nähmaschine der Marke „Singer“ ist nicht weit weg und auch der Hinweis auf Trachten, gekrönt mit einer Reihe von üppig geschmückten Kirchweihhüten, wie denn auch die Kirchweih an anderer Stelle bildlich und textlich (Josef Gabriel d. Ä.) vergegenwärtigt wird. Die Harmonie bleibt nicht ungetrübt: neben dem farbigfrohen Kirchweihhut steht ein durchlöcherter Soldatenhelm!

Und dann das Porzellan bis hin zur vergnüglichen Kaffeetafel, die dann schon ins Bürgerliche zielt, wie die Temeswarer Kaffeehäuser.

Zum banatschwäbischen Haus gehörten die Welt des Kindes und Zeichen des religiösen Lebens. Daran erinnert Ilse Hehn auf der einen Seite mit Taufandenken, Kinderwagen, Kinderstuhl und Wiege sowie dem wunderbaren Gedicht „Ein schlafendes Kind“ von Nikolaus Lenau; auf der anderen Seite mit Bildern von Wandkreuzen, Messbüchern, einem Klingelbeutel und Andenken an Maria-Radna. Auch die Schule wird von der Autorin nicht übergangen.

Alte Werkzeuge und Geräte belegen sodann die traditionelle Arbeitswelt der Bauern und Handwerker, deren Lebensgrundlage durch schnittreifen Weizen (mit Wasserkrug!) und hohe Mais-Stauden, Weintraube und Wassermelone und andere Früchte der Erde veranschaulicht werden.

Das Dorfbild scheint diskret auf in „schwäbischen Hausgiebeln“, einem Storchennest und Gänsen an der Dorfstraße, versehen mit ansprechenden Texten von Hans Diplich, Julia Schiff und Hans Wolfram Hockl. Auf die Rolle der Musik und auf presse- , kalender- und andere druckgeschichtliche Zeugnisse nimmt die Autorin Bezug am Schluss ihres reichhaltigen Werkes. Die musikgeschichtlichen Texte stammen von Franz Metz.

Ja, überhaupt die Texte: poetisch und dokumentarisch, passend ausgewählt zu fast allen Bildern oder Bildmotiven, nicht beschreibend plakativ, sondern weiterführend und anregend. Sie sind den Werken Banater Autoren entnommen: von Adam Müller-Guttenbrunn und Heinrich Lauer, Ludwig Schwarz und Balthasar Waitz, Franz Heinz und Horst Samson, Johann Peter Petri und Josef Wolf, Barbara Gaug und Hans Gehl, Erich Lammert und Hans Niedermayer u.v.a.

Ilse Hehn gibt uns Bilder an die Hand, die uns ganz eigenes Erleben in Erinnerung rufen, die jedoch Teil der Geschichte einer Gemeinschaft sind. Sie bietet dies zurückhaltend, authentisch aber auch anrührend an. Mir scheint in diesem Zusammenhang die Aufreihung der Koffer-Bilder eine einmalig dicht gedrängte Rückschau zu sein, in der sich jeder wiederfinden wird, im Bild des Koffers als Abschieds-, Reise- oder Fluchtgepäck: der Karton- und Leder-Koffer, der Reise- und Soldatenkoffer, der Deportierten-Koffer – dieser mit „Laufdistel“ und aufwühlendem Bărăgan-Text von Julia Schiff - und schließlich die Auswanderer-Kiste. Sie steht neben den ins Ungewisse laufenden Eisenbahngleisen.
 

 

Dr. Walter Engel