Zum Gedichtband "Tage OST-WEST"

Pop-Verlag, Ludwigsburg 2015


Was kann schöner sein, als selbstgeschaffene Gedichte mit selbstgeschaffenen Bildern, Collagen, Objets trouves und Fotos zu ergänzen? Ilse Hehn führt dies vor in ihrem wunderbaren Gedichtband „Tage Ost-West“. Ihre poetischen Betrachtungen führen uns zeitlich und örtlich in entlegene Gefilde, unbekannte Orte. Eine Zeitreise von Ost nach West und umgekehrt, begleitet von Landschaften, Ereignissen, Gefühlen, Empfindungen, die unsere Nervenfasern vibrieren lassen, wenn wir als Leser wie die Dichterin zulassen, dass „Landschaften in uns hineinfahren“ und ihnen von unserem Inneren heraus folgen, dem Geräusch des Wassers, der Stille des Petersdomplatzes, dem Song auf dem Friedhof Pythagorio, dem Wind auf der Insel Samos, dem Dram in Schottland, dem Schnee in Lappland, dem Meer in der Bretagne, der Malvenblüte in Burgund, den Felsengräbern in Ägypten bis hin zum Ausgangsort aller Dichtung dieser Autorin: ihrer Heimatstadt Temeswar. Unter der Oberfläche ihrer poetischen Sprache verbergen sich verborgene Schichten wie im selbstgeschaffenen Büttenpapier, der Papiercollage oder den Objets trouves, deren Zusammenhänge sich häufig erst im Nachhinein herstellen lassen. Zahlreiche Verweise spielen auf Dichterverse von Rilke, Kafka, Grünbein, Pessoa, T. S. Elliott, Tranströmer u.a. an und laden sich wechselseitig mit Bedeutung auf: Im „Eigenleben der Wörter“  listet sie die Unworte auf, wie Wendehals, Kriegsgewinn, radioaktiv usw., in „Eigenleben der Zahlen“ deutet sie auf die Securitatesprache hin, die Aktennummer, Bemerkungen, Überwachungstermine usw. aus den Geheimdienstakten der Kommunisten, in „Strandgut“ beschreibt sie – aktuell – die Flüchtlingsströme an den Meeren, die aus Afrika und sonstwo in Europa angeschwemmt werden, jene, „die nicht zum großen Ganzen gehören“, die „unsere Häfen verdrecken“, „unsere Sonnenuntergänge besudeln“.

Politisch angehaucht und doch nicht politisch ist die Poesie Ilse Hehns eine Poesie des Augenblicks. Ihre Gedichte sind der Zeit entrissene Augenblicke. Das undatierte Gedichte-Tagebuch – Reisetagebuch – mit 62 Gedichten, die nicht chronologisch nach Länder weder nach Zeit angeordnet sind, begleiten  die Collagen, Fotografien und Überschreibungen, die Objets trouves - das Ungesagte, das aus dem gefundenen oder geschaffenen Objekt, Plakat, aus dem überschriebenen Foto spricht. Der 100 Seiten lange Gedichtband ist ein Augenschmaus: Gedichte und bunte sowie schwarzweiß Fotografien, Überschreibungen. Überschreibungen möchte man fragen, was ist das in der Literatur? Ilse Hehn, die Künstlerin aus dem Banat, hat es zu ihrem Markenzeichen gemacht: die Schrift durchkreuzt die Fotografie, die Poesie durchkreuzt die Landschaft. Nachdenklich in freien Versen. Der Band fängt mit „Landung Rumänien“ an: „mein Land kommt als Überraschung von Osten her / ins vergessliche Licht der Demokratie / runter geht’s rauf geht’s doch immer runter…“  – und endet in Lappland: „Palimpsest II“: „Nebel über Klang von Wolken / das Stimmenregister letzter Farben zeichnet Denkfiguren in die Luft verlischt / Nachhall von Schrift / dieser Eindruck man hätte Zeit …“.


Katharina Kilzer, Wiesbaden, 31.07.2015



Kleine und große Fernen in Vers und Bild


Wie von der banatschwäbischen Autorin mit ihrer künstlierischen Doppelidentität nicht anders zu erwarten, vereint auch Ilse Hehns jüngster Gedichtband lyrische Texte und Bilder, die einander ergänzen. Das literarisch-bildnerische Kunstwerk lässt sich als Reisebuch lesen, in dem visuelle Eindrücke, verstreute biografische Episoden, persönliche Reflexionen und Verweise auf mehr oder weniger aktuelle politische Ereignisse poetisch verdichtet und miteinander netzartig verbunden zusammengefügt werden.

Der Band gliedert sich in drei Teile, die den Fokus jeweils auf andere von der Dichterin bereiste Regionen richten. In "Heimat, die Zunge" nimmt das Ich einen Besuch in Temeswar/Timisoara im Jahr 2010 zum Anlass, um seine Eindrücke vom gegenwärtigen Rumänien in lyrischen, auf das feinste gearbeiteten Miniaturen festzuhalten. Hinter dem schönen Schein werden die Risse der Vergangenheit, die Ratlosigkeit und die Enttäuschung angesichts der nicht eingelösten Erwartungen der 1989 von der kommunistischen Diktatur befreiten Rumänen sichtbar.

"Zieh Leine, Poesie" lautet die Überschrift des zweiten Teils, der vor allem Gedichte enthält, die die Spannungen zwischen Ost und West am Beispiel Ägyptens und seiner jüngsten Geschichte zur Sprache bringen. Gleich zwei heikle Themen geht Ilse Hehn hier an. Zum einen die Unfähigkeit des "Westens", die politischen Verhältnisse in anderen Kulturräumen restlos zu begreifen: "Der Westen schaut zu sagt Frühling ist ein / Frühling ist ein Frühling." Der Verweis auf Gertrude Steins berühmten Vers hebt das Spielerisch-Ästhetisierende der "westlichen" Haltung hervor. Zum anderen die europäische Ambivalenz gegenüber der Flüchtlingsfrage, die die Lyrikerin zu drastischen Worten greifen lässt: "...wenn von Schwarzhäutigen geredet wird / die unsere Häfen verdrecken / von Romas die unsere Sonnenuntergänge / besudeln dies bunte Volk das die Leute / überall haben wollen nur nicht vor / der eigenen Haustür."

Der "Kleine Fernen" überschriebene letzte Teil fasst in ungewohnten, mitunter grellen Bildern Eindrücke und Erlebnisse der Autorin an verschiedenen Orten in Westeuropa - von Florenz und Rom bis hin zu Norwegen und Lappland - zusammen, die gelegentlich zu einer Meditation über das Touristendasein werden: "Längst hat die Stadt uns vergessen; / undeutlicher Rest wir, grauer Belag, / flache kleine Wellen über staubigem Stein, Touristen."

Stilistisch fallen viele Gedichte durch moderne Verfahren der Verfremdung und, mit wenigen Ausnahmen, auch der Verknappung der Sprache auf, was sich in der sparsamen Interpunktion, in der reduziert-verrenkten Syntax und dem eigenwilligen Gebrauch von Determinanten niederschlägt. Diese stilistische Askese erreicht ihren Höhepunkt in zwei Texten, die sich genau imnitten des Buches befinden und durch entsprechende Collagen illustriert werden. "Das Eigenleben der Wörter" bietet nur eine Aneinanderreihung von Komposita, deren getrennte Schreibweise ihren latenten Sinn freilegt. "Das Eigenleben der Zahlen" besteht aus zusammengewürfelten Aktennummern und Daten, die an die Verfolgung der Autorin durch die Securitate erinnern.

Der Intertextualität - sei es explizit in Form von Motti oder als Anspielungen bzw. als verkappte Zitate - kommt im vorliegenden Band eine besondere Rolle zu. Sie stellt mehrfache Bezüge zwischen den einzelnen Gedichten her, die erst bei einer aufmerksamen Lektüre aufgehen. So entsteht etwa zwischen den letzten zwei Wörtern des ersten Gedichts - "Spätnachmittag / April" - und dem Motto des nächsten lyrischen Textes eine Verbindung, die alle anderen Gedichte im ersten Teil in einem neuen Licht erscheinen lässt. Zitiert werden Verse aus T. S. Eliots "Das öde Land", die in einem Zusammenhang vorkommen, wo April als "der grausamste Monat" bezeichnet wird. In Hehns Gedichten findet die Rückkehr in die Heimat bezeichnenderweise im Frühling statt, einer Jahreszeit, die ebenso wie bei Eliot in der Ambivalenz schwebt und nicht nur Hoffnung, sondern auch Grausamkeit und Täuschung in sich birgt.

Im Zeichen der produktiven Verschränkung verschiedener Bedeutungsschichten stehen auch die Collagen und Fotomontagen der Autorin, die als Überlagerung von Bild und Schrift entstehen und meistens genauso wie die Gedichte weit auseinander liegendes Material zusammenfügen, um unverbrauchte Reiseimpressionen und kühne Einfälle spielerisch zu gestalten.


Maria Irod



Wer Bilder mit Texten überschreibt, sie mit grafischen Signalen und malerischen wie auch Collage-Feldern versieht, wer bereits im Titel des vorliegenden Gedichtbandes signalisiert, dass seine „Tage Ost-West“ gleitend ineinander fließen, der geht mit seinen poetischen Visionen nicht auf Reisen, für den sind die Bilder stets an Ort und Stelle in sich gebrochen. Und aus diesen Splittern formen sich andere Visionen, in denen die geografischen Topoi nur Versatzstücke bilden. Dieses poetologische Verfahren setzt die Autorin in mehrfacher Hinsicht ein. In dem in drei große Abschnitte aufgeteilten Band operiert sie mit Zitaten, literarischen Subtexten und der formalen Benennung von Orten und Gemälden, spielt sie mit der Dynamik von Worten und Zahlen und bewirkt auf diese Weise eine Interferenz von Schrift und Wort wie auch von Farbe und Raum. Doch damit nicht genug: Gemeinsam mit den rhetorischen Verfahren, die den vorgelegten poetischen Texten einen anziehenden und zugleich sperrigen Reiz verleihen, entsteht damit für Leser und Betrachter eine besondere Herausforderung. Sie geraten in die Versuchung, Wortgebilde getrennt von kunstvollen Abbildungen wahrzunehmen, mehr noch: Sie klammern sich an die Nennung von Orten und Ländern und leiten davon den Begriff „Reiseliteratur“ ab. Sicherlich ist die Autorin gereist, zweifellos ist die aus dem rumänischen Banat stammende Dichterin in verschiedenen europäischen Ländern und in Ägypten gewesen, unbestritten gibt es Passagen, in denen sie fremdsprachliche Termini benutzt, um ihre kulturelle und sprachliche Vertrautheit mit den jeweiligen Landschaften zu signalisieren. Doch die komplexe Verarbeitung ihrer Eindrücke erzeugt eine in sich gebrochene Wahrnehmung von Welt, die sie mit mehrfachen Zitaten aus T. S. Eliots „Waste Land“ belegt. Diese Welt sei, so T. S. Eliot, ein Haufen zerbrochener Bilder, in der selbst der tote Baum kein Obdach mehr bilde. Unter Verweis auf diese Vision streift sie jegliche Idylle wie lästige Gedanken ab, bemüht sich um diskursiv aufgeladene visuelle Eindrücke, die sie in Texten verarbeitet. Die sind in unterschiedlichen Rhythmen gestaltet und bedienen sich eigenwilliger poetischer Metaphern.

In dem ersten thematischen Abschnitt „DIE HEIMAT, DIE ZUNGE“ ist ein gleichnamiges Gedicht dem Mitbegründer der Aktionsgruppe Banat, Werner Kremm, gewidmet. Er lebt und arbeitet als einziger der aus diesem Kreis stammenden Intellektuellen weiterhin als Journalist in Rumänien. Kennzeichnend für den mit sarkastischen und ironisch gebrochenen Aussagen verdichteten Text ist das fehlende poetische Ich, das durch ein „Ach, du lieber Augustin“, nach dem Canetti-Zitat „Heimat, gerettete Zunge ...“, zu Beginn des Gedichts ersetzt wird. Die dem Zirkuskasperl-Motiv folgende Zeile: „Alles ist hin“ fehlt und wird durch die Aussage „die Kunst am Rande / des Nichts zu leben als sei alles in Ordnung.“ (S. 25) ergänzt. Und die Nennung des Ortes, in dem sich die folgenden Visionen verdichten? Temeswar oder eine andere rumänische Stadt oder „ein Ort jenseits der Wand“? Auf jeden Fall ein Ort, an dem sich ein undurchsichtiger gesellschaftlicher Wandel abzeichnet, wo der „demokratische(n) Schlamm / … sich langsam über das Roma-Gold (schiebt)“, wo „die Pampa … an den Westen (verloren)“ geht. Sind solche gebrochenen Wortbilder die typischen Reisebilder, in denen Gedichte-Leser (Gibt es die noch?) ihre lackierten Urlaubserinnerungen wiederfinden?

Auch „Am Rande von Kairo“ - in dem mit der Losung „ZIEH LEINE, POESIE“ beginnenden zweiten Abschnitt - sind die poetisch aufgeladenen Bilder nichts als „zerkratzte Traumschlacke im / Gelächter der Sprache“ (S. 37). Beabsichtigt die Autorin etwa, ihren Lesern / Hörern mit solchen Gegenbildern den Spaß am Reisen und an der Lust am Schauen zu nehmen? Auf keinen Fall! Vielmehr kratzt sie am Lack der Oberflächen, öffnet den Blick auf die düstere politische Gegenwart, gräbt sich in die Untiefen der Geschichte, verbindet die historischen Linien mit den noch vorhandenen Spuren. So wie in der NEKROPOLE im ägyptischen Benni Hassan, einer Anlage mit vielen Felsengräbern, wo die Namenlosen „auf Papierfetzen kodifiziert (sind)“. Oder die FAHRT NACH ABU SIMBEL mit bewaffnetem Geleit, dem Ort in Nubien, wo der bekannte Tempel des Ramses II. stehen geblieben ist, wo die Angst vor einem terroristischen Überfall ständig präsent ist? Oder die Nahaufnahmen vom ÄGYPTISCHEN FRÜHLING, wo „ein Volk aus dem Schweigen gehoben“ wird, und der Westen zuschaut und „sagt ein Frühling ist ein Frühling ist ein Frühling:“ (S. 46)

Noch eine bittere Kostprobe? Bitte sehr! „IM WINTER MOSKAU“ und kursiv „In memoriam Marc Chagall“. Ein auf den ersten Blick leicht zu dekodierender Text. Roter Platz, Basilius-Kathedrale, Spasskij-Turm – ja, das sind die Merkzeichen der anheimelnden touristischen Erinnerungen an Moskau. Noch etwas mehr? Kathedrale, Ikone, aha, sie steht jetzt vor einem Ikonostas, der Bilderwand mit den vielen Heiligen, auf unterschiedlichen Höhen platziert. Jetzt noch eine dunkel vibrierende Stimme eines Popen? Nein, ihr poetisierter Blick flüchtet urplötzlich in die Bilder von Marc Chagall, in die „sanften Augen der Pferde“ (S. 67), an einen Ort, dort in Witebsk, „wo der Samowar als vollendete Sonne“ (leuchtet). Hmm, da fehlt leider der bittere Verweis darauf, dass der arme Chagall von den Kommissaren der roten Wahrheit vertrieben wurde und von Witebsk aus im Spätherbst 1941 die verbliebenen Juden von den SS-Schergen in die Gaskammern deportiert wurden. Oder ist es das grenzenlose Gefühl der Dichterin, die durch den Chagallschen Bildraum fliegen und alles vergessen will?

Besonders hervorzuheben sind die Gedichte „AMNESIE DER SCHRIFT“ und “SCHRIFT“, mit den Zusätzen Interferenzen versehen, wie auch „VÀRVINTER“ und „AUS DER VERTÄUUNG“, mit den Zusätzen Palimpseste (vgl. S 93ff.). Sie korrespondieren mit den jeweils auf der Seite gegenüber abgedruckten Bildmontagen, übermalter Malerei und übermalter bzw. überschriebener Fotografie. In diesen Bild-Texten vibriert das Wechselverhältnis von Schrift und Sprache, von taktilen, auditiven und visuellen Schichten solange, bis die Überschreibungen in den Bildräumen eine neue Lautschrift signalisieren. Sie gräbt sich in diese Bilder ein und verleiht ihnen eine in den deutschsprachigen Poesielandschaften ungewöhnliche Aussagekraft. Und sie könnte lauten: Reise in die tieferen Schriften anderer Kulturen, grabe deren Subtrakte aus und beginne einen Dialog, in welchem du deine Vielstimmigkeit nicht in der Erinnerung an lackierte Fotos verschwendest, sondern sie als ständige Herausforderung in dir spürst.


Wolfgang Schlott