Ilse Hehn
Irrlichter
Die Stunde wächst – Mauern bekommen
darin Platz – wird groß, ein Fremdartiges,
man spürt die Kälte in ihrem Kopf
Nach einem halbfertigen Tag male ich ein Bild,
die Farben rollen wie Steine im Gegenverkehr
über Häuser, Rangierbahnhöfe, den Bodenfrost
durch Nase und Mund rinnt ihnen
eine Verzweiflung, die sich
nicht so nennen darf
Farbzeichen in
ungeschriebener Richtung,
von Irrlichtern gejagt.
Unter den Dächern
belauscht uns Gott, der Große Vater.
Eine niedrige bleierne Linie der Horizont
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I. Hehn, Fotocollage mit Überschreibung
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Ilse Hehn
Lesung an Nietzsches Grab oder
Sag mal, hält man mich dort unten immer noch für tot? *
(Exil-P.E.N. Tagung in Röcken, Oktober 2016)
Die Stunde wechselt von einem Fuß auf den anderen
berührt kaum die Hüte der Bäume
an der Kirchenmauer das Grab - eine leere Vase wenn
das Dunkel sich entzündet und
atmet im engen Kahn
in die Brunnen von Röcken fällt Herbst
es regnet in Häuser mit
Wasser wie das Fell eines Hasen
der Himmel ein Grabstein
er wartet auf den Zug
der kommt am Arm eines zerbrochenen Gleises
an diesen Ort ohne Bahnhof
Lou löst sich von den Kleidern der Reisenden
diesen schwankenden Gardinen aus Asche
sagt vor dem Grab hier ist er nicht mehr lass
uns gehen Paul Rée
mit stumpfen Fingern färbt der Tag seinen Teint in
Farben fehlenden Schnees
Poeten streuen Papier eine kurze Oktoberzeile auf die
graue Porphyrplatte
in ihren Köpfen der Schatten der Worte
die schon längst gesagt waren als er sich aus der
Umklammerung der Schwester löste und davonmachte
an ein Ufer ohne Kreuze
von wo er zu den Berggipfeln gehen kann
die einzigen vielleicht mit denen er reden möchte
Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt
in Manteltaschen klimpert der Duft von Geld
ran an die Braunkohle ihr Bagger **
ran an den längst ausgeweideten Bauch der Erde!
Abseits steht jemand ohne zu frösteln
hinter der Deckung Nacktheit***
Dionysos Caesar Narr ****
dem Rauche gleich
der stets nach kältern Himmeln sucht
nachmittags trug man weiterhin
Gedichte vor mir blieb nichts erspart
spät am Abend in Lützen Whisky auf ex getrunken
hinter Barhockern hatten die Dichter gerade noch rechtzeitig
Nietzsche zu Ende gebracht der Nacht soff der Motor ab
*Erik Satie **Nietzsches Grabmal war beinahe der Auflösung geweiht: Der Gemeinde Röcken drohte 2997 ein Braunkohleabbau, wobei die Gebeine Friedrich Nietzsches umgebettet werden sollte. Unterdessen wurde der Plan ad acta gelegt ***Anlehnung an das Nietzsche-Denkmal, die Skulpturengruppe von K. F. Messerschmidt in Röcken ****Namen, die sich Nietzsche in seinen Wahnzetteln gab In kursiv: Original Nietzsche
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Ilse Hehn
Am Rande von Kairo
(Ägypten 2010)
Was nicht fragt sind Bilder in den
Farben Ägyptens Finger abflammender
Bäume Frachtensegler im Strom was du
denkst ist zerkratzte Traumschlacke im
Gelächter der Sprache sie reißt
Menschenschatten nicht auf nicht
Mechanismen Tabellen Umsätze Verträge
während ich notiere wo ich bin
1. Februar 2010 zerfällt in Dinge die
Stunde sandig rauen Flugsand
Aufleuchten inmitten
von Staub
Sonne lässt Fetzen fliegen am
Kehlkopf angetrocknet meine Zunge der
Tag verkauft was ihm nicht gehört
zieh Leine Poesie
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Ilse Hehn
Sonnengott Rê / Theben-West
(Ägypten 2010)
Wiegtest dich Gott in Sicherheit
nährtest die Barke Himmel
in deinem Widerschein der Schädel des
Menschen
Windbeutel Sandtier
man fraß dir aus der Hand
getilgt durch Schatten Zeit
nur dein Name blieb ungelenk aufrecht
blutleeres Zeichen ohne
Scheu berührt inmitten der heutigen Sonne
Bilder sich zurücklehnend im Stein
gegen Tageslicht betrachtet die
erstarrten Farben Braun Ocker Blau
während Bloßstellung sie einschneit wie
gequälte Zungen
mit einer Tageszeitung unterm Arm der
Mann neben mir bewaffnete
Soldaten ihre Abtastblicke
Redensarten aufgeteilt in Hirnhälften
flirrende Luft
Müdigkeit aufgeschminkt im Schatten
Touristenbusse
ein Stück Wüste glänzt irgendwo
als wär’s ein Schluck Wasser
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Ilse Hehn
Fahrt nach Abu Simbel/ späte Romantik
(Ägypten 2010)
Die Sonne über uns hergeschleppt nach
Abu Simbel mit dabei bewaffnetes Geleit
der Tod ist eine Möglichkeit ein
Touristenbus in einem Wüstenfilm
was sprengt durch vereiste Knochen
verchromte Haut durch die Vorstellung Leben
was krankt an diesem Samstag
der nicht mehr in die Woche passt
sowieso und Türen bleiben zu was zerrt
an verfranzten Herzmuskeln quietschende
Reifen fahren tief in den Körper
Atemnot & Angst am Rand der schaukelnden
Wüste mit dauernder Verneinung
also so könnte es sein
eine Explosion ein Schuss ein
Comic ohne Fortsetzung und Fußnoten
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Ilse Hehn
Nekropole von Beni Hassan
(Ägypten 2010)
Maserungen des Lebens in
Ideogrammen festgehalten präzise gemeißelt
gemalt damals vor 4.000 Jahren
Stilisierung von Sinn von Welt Fragmente
gegen den Tod in hohen
Felsengräbern ihre Buntheit eine mit
Hoffnung bekleidete Leiche ein Mumientanz
Ka – geheimer Staunender
tritt aus der Bilderlandschaft sucht letzte Überfahrt
der Traum der mit der Sonne
aufsteigt zu neuem Leben – ein leeres
Viereck Licht
zurück in Minia
Häuser drängen zusammen zwängen
sich in die Wüstenoase gleich Finger in
einen zu engen Handschuh
jetzt sehe und rieche ich
Gewürze Currysorten Pyramiden aus
rotem orangenfarbenem und gelbem Staub
jetzt ist der Tag ein Helm aus Sand ein
Schluck Tee Sonnenbrille Lippenstift
eine Trockenfrucht Tinte die
auf Papierfetzen bezeugt wie
namenlos wir kodifiziert
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Ilse Hehn
Saqqara/Grabstätte des Kagemni
(Ägypten 2010)
Dunkelheit zieht Raum fühlt sich an wie
farblose Luft
Stille belauert das
Flechtwerk gemeißelter Linien
Leben in
Überschreitung der Schwelle
für Minuten
das Innere der Mastaba atmet
den Code im Stein berührt
wo Sand nicht rostet
Gedächtnis
Tote in ihrem Tod wie meine Wunden im
Schlaf
abends Großstadtnacht crazy Kairo
verzerrtes Kalkül morgen im
Schnittmusterbogen Mittwoch
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Ilse Hehn
Florenz I./Jenseits des Arno
(August 2007)
„Die Glorie dessen,
der mit seinem Finger
Bewegung schafft, durchdringt das All und gleißt
An einer Stelle mehr und sonst geringer.“
Dante, Paradies, I. Gesang. 1-4
Oltrarno
gegen 15 Uhr riechst du die
Hitze des Tages der Arno kippt
seine Spucke über den Rand fasst Fuß am Ufer hier
schmeckt es nach Katzenpisse glühender
Luft in die Ecke getrieben platzt Romantik an
Wänden des Borgo San Jacopo Besenginster kehrt
unter Brücken Geschichte 1944 gesprengt danach neu
errichtet in alter Form nur Ponte Vecchio – eine
Mundhöhle randvoll mit Gold ohne Antwort unter der Zunge
Costa di San Giorgio rollt zur Festung Belvedere die
scheint zu brennen eine
TV-Szene wird eben gedreht mit
jungen Männern bauchtief im Rapp Geruch von
Sand vertrocknetem Gras Papiertüten scharren im Kies mein
Blick an einer Plastik vorbei Frauenakt schöntoter
Stein geht über die Fototapete der Stadt das
dürstende Weichbild umliegender
Hügel der Himmel darüber mit fiependem Atem ich
wechsle den Kamerawinkel
die Sonne bläst ihre letzten Funken fährt
dem Tag durch den Rachen Tod zieht sich zurück ins
Halbdunkel von San Miniato von Santa Felìcita von
Altartafeln und Fresken kriecht das Grisaille dir durchs
Aug hinter die Stirn
dann geht das Licht
Abend ein grauer Baum lehnt
an Stille in Kirchen zerkrümmeln gottäugige Bilder irgend-
jemand erinnert klebt zink-silberne Blätter in seinen Dante
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Ilse Hehn
Florenz II.
(August 2007)
den Zünder suchen unter der Haut
zu verstehen das Erinnerte Hölle Fegefeuer Paradies
unter Dantes verzinktem Lorbeer
längst hat die Stadt uns vergessen
undeutlicher Rest wir grauer Belag
flache kleine Wellen über staubigem Stein Touristen
Akrobaten auf der Piazza della Repùbblica zu ihren
Füßen das Stundenglas aus Jetzt und Sofort Münzen darin
Taschenhändler am Rand der Szene Algerier vielleicht versprüht
vom Leben durch den Abend wie Fledermäuse werden
sie huschen ihre Angst anwachsende Spirale
um uns verkrusteter Glanz Domfassade daneben Giottos
Campanile angepflockt in der Hitze Kühle der Schläfe – das
Baptisterium weißgrüne Hirnströme Geometrie
vor dem Palazzo Vecchio Kopien nackte
Sieger Bühnendekoration Hochzeitsgäste ausgeblichen unweit
lümmelt Ponte Vecchio auf Sommer poliert darunter
Arno im Schlamm das Gesicht nach unten
kaum vernehmbar die Funksignale der Farben in Kirchen
den Uffizien Bilder panzerverglast von Checkpoints bewacht
Dantes Haus schattengestreift Piazza Santa Maria Novella
entzündet durch Licht im Bahnhofsrevier Postkartenverkäufer
Nutten einige Bäume Tristesse des Ortes
nach 23 Uhr fällt der Abend in sich zusammen
über uns das Gesicht der Stadt abgeschminkter Himmel aus
ihrer Mundhöhle linst wir erreichen
Piazza Santa Elisabetta Hotel Brunelleschi steigen in den
byzantinischen Turm hohlen Kolben aus Stein sechstes
Jahrhundert Nacht schneit uns ein
traumverstümmelt ganz von dieser Welt
Es ist nicht der Tod der uns schreckt
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Ilse Hehn
Florenz III.
(August 2009)
unser Fernsein miteinander am Rand möglicher Wälder mit Adern durchzogen wie Blätter löwenköpfig die Stadt ein Sarg aus piatra dura
Liebende aus echtem Marmor ohne die Gnade der Wärme des Bettlers abgewetztes Fell an den Brüchen spielt das Licht mit verirrten Hautflüglern
für einige Stunden schlägt die Sonne Rad kocht Gelb über unseren Lungen versiegelt mit Kupfer die Risse du meidest schmale Gehsteige dein leises Schnaufen in der Hitze ein viel zu großes Tier im Asphalt das Aug eine Baumöffnung atmet nervös
der Arno führt Holz Regenzeichen
ein brauner Wasserfaden - verdunkelter Schutz Einsamkeit von Monaden
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Ilse Hehn
Hey Liebe
Das kleine, grausame Tier
Als würde es beten, als würde es fluchen
Ich untersuche das Fossil
so schäbig, so scheinheilig
die alte schlampige Mythe
keine Erinnerung an Umarmung und mehr
Hey Liebe - ich hab noch
eine Rechnung offen!
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Foto der Autorin, mit Überschreibung, 30x42cm
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Foto der Autorin, mit Überschreibung, 30x42cm
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Ilse Hehn
Norwegische Skizze
Allgegenwärtig der Stein,
einem gewaltigen
Ungeheuer gleich, schmatzend,
speichelnd, aus Milliarden
Spalten, Rissen, Schluchten,
treibt er Wasser aus,
tief geritzt in seine Haut der
eiskalte Schliff der Zeit.
Am Himmel die Drohung von Schnee.
Fließend und weitschweifig
verlaufen Erinnerungsströme.
Der Fjord unter mir - eine
Falltür zur Ewigkeit.
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Ilse Hehn
Nomaden wir
Im Raum der Nachtweite
suchst du die Nachrichten ab
nach Spuren des Tages,
nach zornigen Farben,
den überlebenswichtigen, kratzigen Decken.
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Foto der Autorin, mit Überschreibung, 30x42cm
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Fotocollage I. H.
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lse Hehn
Die Heimat - die Zunge
Heimat - gerettete Zunge*...
ach, du lieber Augustin - die Kunst, am Rande
des Nichts zu leben, als sei alles in Ordnung.
Monstranzäugig ein Zimborium - nenn es
Muttersprache, Beinhaus, Fahnenstange,
auch Marktplatz oder Rettungsboot,
nenn es Gelächter, wo großäugige Wörter rollen,
nenn es Ort jenseits der Wand.
Der Tag süffelt maisgelbes Licht
verschmilzt mit dem Asphalt, mit der listigen
Hintertür der Zeitung "Adevarul"*
und über demokratischen Schlamm schiebt
sich langsam das Roma-Gold:
Paradiesäpfel mit leichtem Gewicht.
Der Versuch, auf Füchsen zu reiten.
Nichts mehr geht bis aufs Blut,
die Pferde sind tot, es lebe der Gaucho,
die Pampa verloren an den Westen.
ein schwachbrüstiger Server die Zunge,
Leviathan aus Blech.
*Elias Canetti: "Die Gerettete Zunge: Geschichte einer
Jugend"
*"Die Wahrheit", rumänische Tageszeitung
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Ilse Hehn
Tafelbild
alle Gegenstände zeigen zur Erde
die Stadt liegt da
ein gestürztes Klavier ohne Tastatur monoton
balkangelbe Hitze als gläserner Geier über dem Park
Sonne gebläht und rund
ein Tropfen vor dem Fall
die Piaristenkirche rollt ihre Flügel ein
Gottes Energie zusammengekauert – Hieroglyphe
gemalt in den Schatten einer Kirchenbank
Welch Sackgasse dieser Mittag!
Die Spatzen: hüpfende Flugblätter im Staub
mein Auge ein tiefes Rohr
eine Libellenlarve darin
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I. Hehn: "Selbst". Fotografie mit Überschreibung
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I. Hehn: „Interferenzen“, Montage, unter Verwendung von Buchseiten anno 1738 und Baumrinden
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Ilse Hehn
Amnesie der Schrift
Interferenzen
Zärtliche Schreibschrift, Schrift des Verschwindens.
Über ihre Milde legt sich heute
Überwachung, Kontrolle, Bildschirm,
Buch gibt sich online, gibt sich süßem Handel hin im
Kartenzimmer digitaler Freaks, Buch wird E-Book.
Doch nicht vergessen unsere papiernen Geheimgärten,
unsere heimlichen Liebschaften, unsere nächtlichen Freunde,
Leben, das keimt in den Tiefen der Zeilen,
das entspringt den Arabesken gezeichneter Buchstaben.
Schrift – Geburtsort, Dorf meiner Sprache.
Erinnerungen an das Dorf, an die sprechenden Hüllen,
an all die verborgenen Winkel, verloren im
Treibsand der Tastatur.
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Ilse Hehn
Aus der Vertäuung
Palimpsest
Nebel über Klang von Wolken
das Stimmenregister letzter Farben
zeichnet Denkfiguren in die Luft verlischt
Nachhall von Schrift
Dieser Eindruck man hätte Zeit
eine Spur hinter sich
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I. Hehn: "Palimpsest". Malerei mit Überschreibung
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