„Existentielle Sinn-Bilder“
Zum neuen Gedichtband von Ilse Hehn „Den Glanz abklopfen“
Der neue Lyrikband von Ilse Hehn umfaßt Gedichte aus
drei Jahrzehnten biographischer Wirklichkeit: 1973 – 83, 1983 – 93 und
1993 – 98. Deckblattgestaltung und Collagen (I – V) stammen aus der
Feder der Autorin.
Das Buch lebt aus der einzigartigen Symbiose
schmerzhafter Ehrlichkeit, strenger Metaphorik und kreativer
ästhetischer Freude. Beharrlich thematisiert Ilse Hehn (Zyklus I und II)
das Nicht-Sagbare, Tabuisierte, das Verdrängte, Ängste und Unruhen,
Trotz und Aufbegehren gegen die Ideologie der „kranken Worte“ und großen
„Parolen“ (...sie durchbrechen heißt alles), gegen Pervertierung der
Werte (Schülerballade). In beschwörenden Bildern spricht die Autorin von
der intuitiven Reinheit der Kinderseele (Auf der Brücke; Adam) und der
Sehnsucht nach dem Hort der Kindheit (Elf Hufeisen: wer aber gibt mir /
die Küsse wie / Kinder zurück). Sie schließt ihre Verluste (Mutter,
Ehemann, Banater und siebenbürgische Heimat), ihre Verlorenheit (Über
deinem Grab), ihr Lieben ( Du kommst; Schenk mir Apfelkerne; Im
Lichtkegel) mit ein in den Widerstand gegen das Zeitverhängnis, sie
trotzt Enttäuschungen (Zyklus III: „Trotzdem“) auf der Suche nach dem
Leben „zwischen Abschied und Ziel“ und spart auch in der neuen Heimat
nicht „an der Farbe der Fragen“.
Dass man an dieser Lyrik nicht vorbeikann, liegt am
Miteinander dessen, was Ilse Hehn in strahlender Fülle offenbart, mit
dem Wie und Womit dies geschieht. Dichten ist hier keine kühle
Angelegenheit: Die aufwühlende Emotionalität (...streife mir Haut und
Haar ab / lege die Nerven frei / stelle mich der Distel dem giftigen /
Seidelbast...) sprengt nach der einleitenden Hymnus-Parodie (Es hymnet
laut) die klassische formale Beigabe des Gedichts. Vereinzelte
Reimbilder (...bin Tand wie dein Kuß in die Hand springt ein Fisch mir
und mitten ins Herz...) entstehen wie zufällig im Strom der
Empfindungen, die Aussage fließt als rhythmische Prosa (Auf die
Rückseite des Fensters / plane ich meine / Reisen / Diese Zeit / ist die
schönste) über sinngebende Wortketten und Zeilenbrechungen in
Strophenstrukturen ein. Syntaktische Einsparungen, Versverknappung und
Alternanz der Groß-Klein-Schreibung (SAGT / nicht fragt) balancieren in
der visuellen Geometrie dieser Gedichte.
Mit der Kraft ihrer Gedichte wächst die Intensität der
Sprache (Jetztzeit: Wir packen die / Sehnsucht / in Zeitungspapier,
zersägen die Sätze / in Worte Zäune für morgen), verdichtet durch
biblische Symbolik (...hier wird gewürfelt / um Brot / um Fisch),
Kinderreim und märchenhaften Elemente (Kein liebes Lied), Gegenstände
als Bedeutungsträger (Brett, Zaun, Brücken, Uhren), Verbenreihen für
bestimmte Sinnbereiche (Knüpf dir die Augen auf:
...hier wird geknebelt geleckt zer/kaut geschwiegen gesprochen) füllen
den Vorstellungsraum des Lesers. Bewegende Vergleiche und
Metaphernfelder stützen die Textur. Zitate (E. Kästner, I. Bachmann, H.
M. Enzensberger) verschmelzen mit dem Wesen der Gedichte (Auf der
Brücke: Die Kinder besitzen alles / außer dem, was man ihnen nimmt – J.
Prévert); Konnotationen aus der Malerei dienen der Reflexion und dem
intellektuellen Spiel mit Farbe (rot, schwarz, grau, steinpatiniert...),
Klang ( Lied, lockt, läutet...) und Geschmack (Brot, Apfelkerne,
giftiger Seidelbast).
Das hervorragendste Instrument ihrer klar modellierten
Schriftlichkeit ist für Ilse Hehn der Mythos WORT. Es verfügt über
körperliche Gestalt (...die Worte / die quadratischen / die runden /
langen / schweren / selbst die mit kleinem Gewicht...), und ethischen
Charakter (...immer bereit / dem Leben ins Auge zu sehn...: Wenn keine
Farben mehr). Durch seine Unbestechlichkeit – entgegen ideologischen und
ökonomischen Manipulationen ( und achtsam ortet man das Wort; ... das
Wort ist keine Münze / das Wort ist keine Ware...) – stellt es
Dialogfähigkeit, ja geistige Wahlverwandtschaften her, nimmt das
Prädikat beseelt an: Auch heute sind sie (die Worte) die einzigen
Freunde / die sich bewähren / selbst das wenn und aber. (Wenn keine
Farben mehr).
Zufällig oder gezielt, wie immer auch der Leser „die
Wege zu ihr“ findet, er gleitet fast unmerklich hinein in ein „Vergessen
der Spaltung zwischen Ich und Du“ und verknüpft seine Erfahrungsprozesse
mit den existentiellen Sinn-Bildern dieser schönen Lyrik. Ilse Hehns
Gedichtband ist ein Geheimtipp, der nicht geheim bleiben sollte – ihn
trägt, um mit den Worten der Dichterin an Marc Chagall zu sprechen,
„eine Brücke von Zartheit und Kraft: deine Brücke über Traum und
Wirklichkeit“.
Gerda Corches |