Überwachung in Diktaturen und simulierten Demokratien
Die Überwachung „verdächtiger“ Bürger/Innen
durch die Staatssicherheitsbehörden in kommunistischen Staaten bildete
nach den ersten Enthüllungen in den 1990er Jahren ein virulentes Thema
auch in der bildenden Kunst. Unmittelbar Betroffene wehrten sich, wie
zum Beispiel die aus Dresden stammende Künstlerin Christine Schlegel in
ihrem Bild-Text-Band Hautlos. Eingeschweißte Überwachung (Berlin:
Gerhard Wolf Janus Press, 2001), gegen abstruse Behauptungen und
diffamierende Berichte von Stasi-Spitzeln, die meist als IM-Mitarbeiter
tätig waren. Auch die berüchtigte rumänische Sicherheitsbehörde
Securitate hatte über Jahrzehnte hinweg ihre Staatsbürger/Innen wie
Freiwild behandelt, worüber vor allem die zahlreichen Berichte und
Dokumentationen der aus Rumänien seit den 1980er Jahren emigrierten
Schriftsteller/Innen zeugen. Die aus dem Banat im Westen Rumäniens
stammende Künstlerin und Schriftstellerin Ilse Hehn, seit 1992 in Ulm
lebend, wurde im August 2011 mit ihrer rumänischen überwachten
Vergangenheit konfrontiert, als der „Nationale Rat für das Studium der
Archive der Securitate“ ihre Akte freigab. Aus ihr konnte sie entnehmen,
daß „sie jahrelang ebenfalls eine intensiv beobachtete Zielperson der
Securitate war“, wie Prof. Dr. Anton Sterbling in seinem kommentierenden
Vorwort anmerkt. Seit 1976, als sie Mitglied der europäischen
Autorenvereinigung „Die Kogge“ wurde, war sie im Fadenkreuz der
Securitate. Elf Jahre später, als sie für eine Anthologie mit dem Titel
Das verfolgte Wort einen Beitrag schreiben sollte, legte die
Securitate ein „Dossier der informativen Verfolgung“ unter dem Decknamen
„Kogge“ an. Seit diesem Zeitraum wurde das Umfeld der „Zielperson“ Hehn
mit informellen Mitarbeitern besetzt, die sich im Auftrag der Behörde an
die operative Umsetzung der Überwachung machten, indem sie Berichte
schrieben. Die hauptamtlichen Geheimen hingegen installierten Wanzen in
Lampen und Telefonapparaten. Bei der Lektüre der Dossiers stieß Ilse
Hehn auf Personen aus ihrer Bekanntschaft, die sich in ihren Berichten
über das „Zielobjekt“ äußerten. Eine enttäuschende Erkenntnis über die
Spezies homo, die sie mit vielen anderen Beobachtungsopfern bei der
Durchsicht ihrer Akten teilen mußte.
Bei ihrer literarischen und künstlerischen
Auseinandersetzung mit einem diffusen Erfahrungsgegenstand, der
ideologische, politische und psychomentale Aspekte bündelt, bedient sie
sich unterschiedlicher Genres, die sie im Untertitel ihrer Publikation
benennt: Gedichte, Collagen, Notate, ein englischsprachiger Begriff, der
im Deutschen als Notiz denotiert wird, und Malerei als Sammelbegriff für
die Umsetzung verschiedener künstlerischer Stile. Die Publikation ist in
zwei große Abschnitte eingeteilt, die zwei sich annnähernde Themen
behandeln. Auf den ersten Blick irritiert die graphische Anordnung der
Titelbegriffe auf dem Einband. Rechts neben dem Namen der Autorin in
Versalien IRRLICHTER, darunter zentriert vier Punkte, ebenfalls in
Versalien KOPFPOLIZEI SECURITATE. Der rumänischsprachige Titel weist
hingegen keine Abweichungen in der Buchstabengröße auf dem Titelblatt
auf, im Gegensatz der Titelangabe im Innenteil. Soll der
Leser/Betrachter besonders auf den ideologischen (rumänischen) Irrweg
aufmerksam gemacht werden? Eine Intention, die die
gestisch-zeichnerische Gestaltung der Titelblatt-Collage aufgreift.
Darauf verweist auch der auf schwarzem Hintergrund gestaltete Abschnitt
1, dem das Motto ‚schwarz’ mit einem Textauszug aus Arthur Rimbauds Vocale vorangestellt ist. Die IRRLICHTER beziehen sich
auf zwei Textquellen: auf bestimmte Seiten aus der Geschichte der
Rumänen (Constantin und Dinu Giurescu, Bukarest 1971) und auf
fotografische Reproduktionen, auf denen der einstige „Conducǎtor“ Ceauşescu zu
erkennen ist. Während die Geschichte der Rumänen, ein ideologisch
aufgeladenes Machwerk kommunistischer Zielsetzung, auf wenigen,
gleichsam abgerissenen Buchseiten mit vielfarbigen Collagen als
ephemeres Produkt präsentiert wird, bilden die konzise gestalteten
Gedichte der Autorin, mit der beigefügten Übertragung ins Rumänische,
weiß auf schwarzem Hintergrund, das künstlerische Kontrastprogramm. Eine
besonders markant gestaltete Doppelseite bildet FIRNIS: „Über den
Dächern/ belauscht uns Gott, der Große Bruder./ eine niedrige bleierne
Linie der Horizont; darunter Nachtstrategien, Auslageware Mensch,/
dünner Firnis Zivilisation.“ Und auf der linken Seite inmitten
byzantinisch-rumänischen Zivilisationsfetzen lächelt der Conducǎtor für
die Geschichte seiner Landsleute.
Der Abschnitt 2 soll, ausgehend von den
IRRLICHTERn, die Erfahrungen der Vergangenheit auf eine andere
künstlerische Bildebene transponieren. Eine Intention, die nicht zuletzt
aufgrund der hautnahen Begegnung der Künstlerin mit den Monstern der
Überwachungsbehörde in künstlerischer Hinsicht besonders gelungen ist.
Es ist die ästhetische Verdichtung von reproduzierten
Schwarzweiß-Dokumenten, collagierten Angstvisionen, umgesetzt in
Gesichtern, Fratzen und Masken, kommentierten Briefreproduktionen,
übermalten Druckmaterialien wie auch farbigen Papierfetzen, die beim
Betrachter vielschichtige Empfindungen auslösen. Gemeinsam mit den auf
der rechten Seite auf schwarzem Hintergrund in Weiß gedruckten
Gedichten, Sachtexten und Kommentaren verdichten sie sich zu einem
komplexen Bild-Wort-Gebilde. Gleichsam auf ein Erfahrungszentrum
gerichtet blickt uns auf den Seiten 46/47 ein graphisches Konstrukt mit
dem Titel Haut entgegen. Taktil, visuell und akustisch erreicht
uns eine Nachricht, die als Sprachfetzen etwas übermittelt, was jenseits
von Vernunft und Einsicht angesiedelt ist. Es ist eine Sprache, die
aufgrund der gesammelten Erfahrung der Künstlerin „in dunkle Regale“
abgedrängt, nur noch als Phantomschmerz wahrgenommen werden kann. Daß
diese Erfahrung datiert ist mit „Deutschland 2012“ (Seite 85) verweist
auf einen Horizont, der in der Zwischenzeit zwiefach besetzt ist. Die in
die Vergangenheit gerichtete, mit körperlichem und seelischem Schmerz
besetzte verbale Erfahrung der Absurdität ideologischer Konstrukte und
eine in der Gegenwart bereits funktionierende, in der nahen Zukunft
praktizierte gläserne Überwachung in simulierten Demokratien und
Diktaturen. In diesem Sinne würde ich das schmale, ganz in ein helles
Rot gestaltete Wortband auf den letzten Seiten des Bildbandes deuten:
„achtsam – kontaminiert – Gespenster – atemlos – Irrtümer“ lese
ich, eingeklemmt zwischen der eben vergangenen kommunistischen
Irrlichter-Diktatur und den kommenden Ausspäh-Staaten. Und ich sehe den
verfremdeten Körper der Künstlerin auf der vorletzten Seite. Ein in
schwarz getauchtes Gesicht, in dem nur noch das linke Auge zu erkennen
ist, während das rechte ein Loch abbildet, und der Rumpf des Körpers in
Erinnerung an ihre Vergangenheit rot gefärbt dargestellt ist.
Ilse Hehn, deren vielseitiges und
multifunktionales literarisches und künstlerisches Werk internationale
Anerkennung gefunden hat, legt mit ihrem Wort-Bild-Band ein bedeutendes
Dokument vor, das nicht nur die Tiefen menschlicher Verworfenheit in der
irren Gestalt einer Kopfpolizei künstlerisch auslotet, sondern auch
deren psychomentale Monstrosität in eine zukünftige Welt projiziert. In
dieser doppelten Dimension gewinnt diese Publikation ihre Bedeutung,
wenngleich da und dort die überbordende Farbgestaltung diese markant
umgesetzte Intention etwas abbremst.
Prof. Dr. Wolfgang Schlott |