„In zehn Minuten reisen wir ab“


Um direkt zu den einzelnen Leseproben zu gelangen, bitte hier auswählen:

FRANKREICH 2003

DIE LOIRE

Weg von der Autobahn – zur Loire abzweigen.

Endlich atmet das Land. Kleine Inseln schlafen als spitze Aprikosenkerne zwischen den Schalen der Steine, verloren im sandigen Wasser. Die Landschaft läßt Traum und Sehnsucht wach werden.

Schlösser, vom Wasser umarmt. Der Gleichklang Gärten, Architektur und Wasser. Ein Lächeln, zauberhafte Leichtigkeit über den von der Zeit zurückgelassenen Schönen.

Breite Wassergräben um die Schlösser, hier klar und durchscheinend, dort trüb, geheimnisvoll, Moortüpfchen wie Tränen auf der Oberfläche. Die Schlossgärten – „verpflanzte“ Symbolik: Gärten der Liebe, je einer für die zärtliche, die tragische, die leidenschaftliche, die vergängliche Variante.

Ich flüchte in den Irrgarten des Schlosses. Chenonceau – grüne Variante des menschlichen Seelenlabyrinths. Ein Gefühl, das in Choderlos de Laclos Stück „Liaisons dangereuses“ mich berührte.

 

Die Loire bei Tours: Kein dramatisches Steilufer, keine Lorelei – sehr schmächtig für ihr altes, weites Bett wirkt sie verloren wie die Einsamkeit nachts im grand lit eines französischen Hotels. Verloren, aber nicht traurig. Scheint zu fragen: Bin ich Wasser? Sand? Wiese? Dieses Sich-Teilen, statt sich zu entscheiden, sich im überheißen Sommer „Beinahe-Verdorren/ Verlieren“ und dann das plötzliche Aufbäumen, hier an der Brücke von Tours. Das Wasser leckt an dem gewaltigen Brückenpfeiler, tanzt um die Steine mit ungeahntem Temperament und beansprucht auf einmal wieder sein großes Bett von einer Kante zur anderen.

*  *  *

HONFLEUR ZWISCHEN 30 UND 40 GRAD

Die bezaubernde Leichtigkeit des Lichts, welche die Impressionisten hier fanden und malten, schwebt heute nicht in der Luft. Glut schneidet ins Fleisch, das Licht, geschmolzene Butter, liegt als Schweißfilm auf meiner Haut; kaum vermag ich zu atmen. Das Wasser in mir kocht, verkocht, ich zucke wie ein lebender Fisch in der Pfanne.

Sie ziehen mich magnetisch an. Orte wie das Vieux Bassin, die Lieutenance, Sainte-Catherine, hinter dem Kai, wo Schiffszimmerleute Gott eine Kirche aus Holz bauten in Form eines umgestülpten Schiffes. Über mir sein hölzerner Rumpf, gewölbt, gesund. Man fühlt sich geborgen in der irdischen Szenerie. Ich könnte hier Äpfel essen und ein Bild malen, dies als Dank an Gott verstehen.

 

Vor der Sainte-Catherine. In uralter Meervertrautheit ziehen sich Fischerstimmen zurück ins Kirchendach, in Schindeln, glatt wie Fischschuppen. Passanten skandieren das, was ist.

*  *  *

MONT ST.-MICHELE

Die Abbaye du Mont St-Michel, auf ihrem felsigen Eiland über dem Meer, nur über einen Damm erreichbar, seit über tausend Jahren eine der wichtigsten Pilgerstätten Frankreichs. Eingekeilt in einer Schar von Besuchern gehe ich mit B. die steile Grande – Rue hinauf, eine enge Straße, die ihren Namen kaum verdient. Ab und zu über die Steinmauern ein Blick aufs Meer; aufgequollenes Licht hängt über dem Wasser, das sich gerade zurückzieht, einen silbernen Sandschleier hinterlässt.

B. zwängt sich mit dem Menschenstrudel durch ein Labyrinth von Gängen, Krypten, Sälen und Kirchen, geht weiter, den Berg hinauf. Mich zieht es ins Watt. Ich suche Distanz zu dieser sonderbaren Pyramide. Wie bei Menschen – erst mit dem Umfeld im Blick, ahne ich mehr von ihrer Seele.
 

Unten im Watt. Die Sonne schwenkt ihre Fahne, das Meer legt seinen Sand zum Trocknen aus. Möwen ruhen in der Stille, Vagabunden im Unbestimmten.

Der Berg liegt vor mir wie in einem Nest aus Wasser. Als würde er Gott tragen auf seiner Spitze. Das klirrende Gelächter der Sonne. Das knarzende Fluchen der Orkane. Der Himmel ist plattgetreten. Doch eine Legende hat er noch – Saint Michel: Diesmal erschien er dem Bischof von Avranches, wies ihn an, auf dem Felskegel im Watt ein Oratorium zu bauen, nur bei Ebbe zugänglich.

Dies war im Jahr 708. Sie bauten das Oratorium, im Laufe der Jahre wurde mehr daraus: übereinander getürmte Romanik und Gotik, adoramus te...

 

Barfuß laufe ich über eine weite Fläche von feinem, nassem Sand, hier und da ein Wasserauge, Priele, die den Himmel spiegeln. Farben lösen sich auf, Sand und Himmel verschmelzen zu einer weichen Stille. Fern die Hektik der schwülen, engen Straße, die zur Spitze von Mont St-Michel sich hoch drängt.

In dem weit ausholenden Bogen der Landschaft die Spur der Möwen im Sand, ewig vergänglich. Zärtlich beieinander Dimensionen: das Große, das Kleine.

 

Es ist 16.35 Uhr, die Flut kommt 18.30. Auf dem Parkplatz aufgestellte Warntafeln bezeichnen täglich neu die Stunden des wiederkehrenden Wassers, das den Parkplatz zur Gänze überflutet. Es heißt, nirgends an der bretonischen Küste kommt die Flut so schnell heran wie an diesem Abschnitt. Wie ein galoppierendes Pferd, sagen die Bretonen.

Ich gehorche der Warnung, breche vorzeitig auf. Der Tidenhub in der Bucht des Mont St-Michel ist einer der höchsten weltweit.


LAPPLAND 2005

Vielleicht gibt es keine schönere Art, Geld auszugeben, als mit der Finnair in Helsinki zu starten, in Lappland zu landen und mit einem Schlitten und fünf Huskys über die weiße Haut der Erde hinwegzugleiten.

 

26. März:

Frankfurter Flughafen. Rolltreppen, Förderrollen, Klapptafeln, Überwachungskameras. Du gibst dein Gepäck ab, wirst ausgeleuchtet, außer dem Paßbeamten guckt dir kein einziger ins Gesicht, die Türen schließen sich hinter dir, die LH wird in Bewegung gesetzt, du sitzt im Polster, dein Himmel heißt Kerosin, Windstille, das Klima rieselt leise. Im Flugzeugfenster verschiebt sich das Grün der Landschaft und der Beton Frankfurts Richtung Süden, dem Steward, der die Sicherheitsvorkehrungen aus dem Lautsprecher gestisch begleitet, huscht für keinen winzigen Moment eine Regung durchs Gesicht, du spürst die ganz intime Genugtuung, inmitten der durchrationalisierten Welt der Flugpläne und Computerhirne, der Fließbänder, Rechenzentren und genormten Bewegungen, so etwas wie Freude zu empfinden, Sehnsucht nach Schnee.

 

Helsinki. Umstieg in die Finnair.

Es beginnt zu menscheln. In der Gangway 63 öffnet sich unaufgefordert die lange Menschenschlange, lautlos und geduldig bietet sie den Familien mit Kindern den Vortritt zum Flugzeug. In der Finnair teilt man den Kleinen Bücher und Spielzeug aus. Zum ersten Mal sehe ich eine Stewardess, die über fünfzig ist.

Der Flug bis Kittilä wird kurz sein, der Bildschirm über mir zeigt seine Dauer an: Lentoaika määränpäähän 1:10 – wobei ich kein ä zu viel und keines zu wenig notiere.

Vor einigen Jahren habe ich diese Gegend mit dem Auto durchstreift, jetzt kann ich sie von oben sehen: Tieferstarrte Erde, auch die Flüsse sind erfroren, im eisigen weißen Nichts sind die Straßen die einzige Spur des Lebendigen.

Ich habe Carl von Linnès Buch „Lappländische Reise“ bei mir.

Ovidii descriptio aetatis argenteae“ hat bei den Lappen immer noch seine Gültigkeit. „Die Erde wird nicht von der Pflugschar zerfleischt, Eisenwaffen rasseln nicht, man dringt nicht ein ins Innere der Erde, man streitet nicht um Grenzen, die Erde schenkt alles von selbst“. (Ovids Metamorphosen).

1732 war es, als Carl von Linné diese Zeilen notierte.

Der nördliche Polarkreis sowie Rovaniemi samt seiner großangelegten Santa Claus-Vermarktung bleibt hinter uns, wir fliegen auf Sápmi zu – das Land der Samen.

Dieser riesige Raum am Rande der Welt hat Anteil an den vier Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, wird deshalb auch das „Lappland über vier Reiche“ genannt. Es gehört zu den am wenigsten besiedelten Gebieten unserer Erde. Weite Landstriche sind unbewohnt, andere weisen nur eine Dichte von 0 bis 1 Einwohner pro Quadratkilometer auf. Der nordwestliche Teil Finnlands im Gebiet von Kittilä, Kolari und Muonio ist, so steht es in unserem Reisehandbuch, „eine der letzten als unberührt erhaltenen Wildnisse in Europa, dessen Fjällbäche nach Westen in den Muoniojoki und nach Osten in den Ounasjoki fließen“. Da wollen wir hin.

 

Vom Flughafen Kittilä geht es nord-westlich in Richtung schwedische Grenze, an Äkäsompolo vorbei, zu unserer Basishütte Äkäskero. Schon hinter den letzten Häusern von Kittilä sieht man keine Menschen mehr, kein Auto. Platz zum Atmen, Luft zum Trinken, ein weites, stilles Land. Die Bäume, windzerzaust und krummgequält halten sie stand, ohne daß je ein Sturm ihnen einen Zweig knicken könnte. Nur wenn sie alt sind, fallen sie. Die Strapazen des Fluges noch in den Knochen, werde ich auf einmal wieder wach.

Der Blick auf den Schnee ist wie ein Tonikum. Es versagt nie, und: es kann süchtig machen. Eine einsam vor sich hinratternde Maschine mitten im Weiß bekommt für mich ein bedrohliches Eigenleben – als tobe sie in unstillbarem Zorn wie ein stahlgewordenes, in die Erde gepfähltes wildes Tier. Dann wieder die Leere.

*  *  *

27. März:

8 Uhr morgens fahren wir ins Hundecamp, welches etwa 20 km von unserer Basishütte Äkäskero entfernt liegt. Das Team, mit welchem ich die nächsten Tagen in der Einöde verbringen werde, besteht aus neun Personen: zwei junge Männer aus der Schweiz, ein Rentner mit seinem 4o jährigen Sohn aus der Stuttgarter Gegend, ein älterer Herr aus Frankfurt, unser Schweizer Guide Reno, dessen Freundin, und wir beide – B. und ich.

Im Camp erhält jeder von uns einen Schlitten, man stellt kurz die Handhabung der verschiedenen Bremsen vor, uns drängen sich nervöse Fragen auf: Was machst du mit der Eiskralle, den beiden Schneeankern, den zahlreichen Bremsvorrichtungen und vor allem: Wann machst du was? Aber, so Reno in seiner jugendlichen Gelassenheit: „Mit der Zeit kapiert ihr alles...“. Er sollte Recht behalten.

 

Jedem Teammitglied werden fünf Huskys zugeteilt, wir lernen ihre Namen kennen ( sie sind auch im Halsband eingenäht ), ihre Rangfunktionen, wir erfahren etwas über das Einschirren der Hunde und über ihr Einspannen vor den Schlitten mit Hilfe der neck-line, tack-line, gang-line. Wer meint, daß man all dies sofort kapiert und richtig ausführt, irrt.

 

Die Huskys laufen im Tandem-Hitch hintereinander. Nome und Nomand sind meine Leithunde – Leithunde sind am wichtigsten, sie bleiben auch bei Schneesturm und Dämmerung auf der richtigen Spur – Odin als team-dog bildet die Mitte des Gespanns, während hinter ihm Xandoo und Grumpy die Funktion der weel-dogs übernehmen. Einmal eingespannt, stimmen fünfundvierzig Hunde vor neun Schlitten ein Kläffen an, das dem noch nicht huskygeprüften Menschen durch Mark und Bein geht. Die Unruhe der Hunde, gepaart mit einer irren, nervösen Vorfreude, überträgt sich auch auf uns und, vollkommen den Huskys vertrauend, rasen wir los. Erste Probefahrt!

 

Der Wind pustet um unsere kleine Gruppe, keiner von uns weiß, auf was er sich eingelassen hat. Fest stehen wir mit breiten schweren Schuhen, die wir im Camp erhielten, auf der rechten und linken Kufe unseres Schlittens, um richtigen Halt bemüht. (Um jeden Irrtum auszuräumen: man sitzt nicht in einem Husky-Schlitten, man steht auf ihm, hinter seiner überspannten Ladefläche). Jeder von uns trägt mindestens zwei bis drei Paar Wollsocken gegen die Kälte. Die Füße der Samen bleiben in den Schuhen nackt: als Wärmeisolierung verwenden sie Bündel von „Schuhgras“. Abgeschnittenes Riedgras wird weichgeklopft, getrocknet und zusammengerollt, dann verteilen sie es geschickt im Inneren des Schuhes – das Gras wärmt wesentlich besser als normale Strümpfe, behaupten sie.

Nome und Nomand, beide Rüden und Brüder, sind so lauffreudig, daß sie meinen Karren fast umreißen, sie rasen viel zu schnell, stecken ständig mit ihren Nasen im Schlitten, der vor mir fährt, dauernd muß ich die Mattenbremse einsetzen und belaste dadurch die Hunde stark. Die Keuchenden tun mir leid, werde Reno darauf aufmerksam machen.

*  *  *

28. März:

Aufreizende Unruhe, heute geht die Tour los. Wir haben eine weiße Sonne, 20 Grad unter Null, einen kundigen Begleiter und etwa 55 Kilometer vor uns, ein für Lappland typisches Wald- und Palsamoorgebiet.

Aufbruch 9.30 Uhr. Reno tauscht einen meiner zu kräftigen Leithunde aus, an Stelle von Nomand bekommt Nome nun die grauweiße Crazy zur Seite. Nome, braunes Fell, braune Augen, kläffend Zähne zeigend, kann die Abfahrt kaum erwarten, zerrt an der Leine, keift mit Crazy, beißt ihr ins Ohr. Die drei anderen Hunde haben weißes Fell und blaue Augen. Odin, dessen rechtes Auge braun und hellblau gesprenkelt ist, wirkt sehr scheu, weicht mir aus, läßt sich dennoch von mir problemlos einschirren. Xandoo und Grumpy zeigen eine größere Annäherungsbereitschaft und reagieren freundlich auf mein Streicheln. Ich knie im Schnee, kraule ihren Hals, sie legen den Kopf an meine Schulter, schließen die Augen. Laut loben solle man nur die Leithunde, um deren Autorität vor den anderen zu stärken, empfiehlt R. Doch ich flüstere auch Odin zahlreiche O.K.s ins Ohr.

 

Wir verteilen unseren Nahrungsproviant und das Hundefutter für die kommenden Tage auf die neun Schlitten. Ich lade mein privates Gepäck, die Hundeleinen fürs Nachtlager und einen 30 kg schweren Futtersack auf meinen Flitzer. Dann Einschirren der Hunde in ihre Kummets aus Leder, Einspannen, ihr tobendes Bellen, unsere innere Nervosität. Keiner von uns lenkte je einen Hundeschlitten, abgesehen von gestern. Als in unserer Reihe ganz vorne Reno sich bückt, um die zwei seitlichen Schneekrallen seines Schlittens aus dem Eis zu buddeln, hat das sofort jeder der fünfundvierzig Hunde geschnallt, ihr Bellen und Zerren an den Schlitten grenzt jetzt fast an Hysterie. Ich neige mich seitlich tief in den Schnee, um auch meinen Schlitten frei zu bekommen, reiße die Eiskralle heraus – sicherheitshalber steckte ich nur die eine ein und auch diese nicht sehr tief – hebe sie hoch, die Meute jagt voran, ich versuche den Schlitten in Griff zu kriegen, verstaue blitzschnell die Kralle am Schlittenbug, atme dann auf, alles an mir ist bestens durchblutet. Ein Stoßgebet, wir kommen in Fahrt.


SIZILIEN 2004

AGRIGENT

Weit weg von der Leichtigkeit der spontanen Schnappschüsse das knipsende Heer deutscher Touristen, die düsterernst keine Gräben des Klischees und der Pose überspringen, als hieße es: Zeit zu fotografieren, Zeit zu sterben...Gleich wird der Mann neben mir nach seiner Digitalkamera greifen, die zeitabgegriffenen Tempelsäulen fotografieren, den im Gras liegenden, gestürzten Atlanten, die junge Frau mit dem Fickblick inmitten der dunstigen Abgestorbenheit der Steine; später wird er die Briefmarke lecken, die auf einer lichtdurchfluteten Postkarte nach Deutschland fliegt, hinweg über diese Insel, über verdorrte Grasbüschel, Kondome in der Macchia, Normannen-und Ruinenästhetik, Mosaik und Maultiere, über das verlorene „Cinema Paradiso“ (der Film wurde hier gedreht), die aufgedunsene Krake der Mafia, über die Osmose der Geschichte, diese existentielle Komödie Pirandellos, hinweg über all das teatro dei pupi Siziliens.

*  *  *

SPLITTER

Einst hieß er Hypsas – der Fluß, heute kahl, nackt, ein totes Bett in die Macchia gekippt. Es fehlt sogar die Metapher von Wasser. Darüber ein versteinerter Ort, Siziliens beste Illusion: Die Akropolis von Selinunt.

Der Rest sind Touristen. Die Steine ringsum belegt jeder von ihnen mit seinen eigenen Verzerrungen, fotografiert, in der langsamen, irrsinnigen Umarmung der Sonne, das Chaos Geschichte. Zeit-Splitter, Reise-Splitter.

*  *  *

BEI MESSINA/SKYLLA UND CHARYBDIS

Kaum ein Wort sagt zu wenig, fast alle Wörter sagen zu viel. Als hätte unsere Sprache einen Hang zur Großsprecherei. Als wären die Worte Triebwesen, Abkömmlinge eines Denkens, das wir nicht proportionieren können und nicht steuern. Skyllawelch Wort voller unheimlicher Geschöpfe der Tiefe mit Riesenleibern und phosphoreszierenden Augen. Charybdis – auch dieses Wort quillt über, „die Ruder sinken und hochauf spritzt der Schaum und bedeckt die beiden Gipfel der Felsen..., darunter die wasserstrudelnde Göttin... weh dir, wofern du der Schlurfenden nahest!“ (Homer)

Fürchterlich bellende Worte, sie machen sich frei, gebären Ungeheuer, Angst und Tod, während Odysseus schon die Fahrt fortsetzt, seine Odysee geht weiter und wird noch Jahre dauern. Bis ihm das, was er hellwach und suchend mit allen Kräften und Sinnen nicht erreichte, im Schlaf zufallen wird: die Heimkehr.


NORWEGEN 2002

GRAU

Die weit ins Land hineinreichenden Fjorde unterbrechen immer wieder die Nord-Süd-Straßenverbindung. Uns bringt die Fähre über den Tysfjord. Grauer Himmel. Graues Wasser. Grau in allen Schattierungen. Sattes Schiefergrau. Mattes Hellgrau. Zartes Blaugrau. Schales Graugrau. Die schwere Düsternis der Bilder Edward Munchs findet hier ihr Spiegelbild. Es erfaßt mich ein Zustand irritierender Orientierungslosigkeit: Wo ist was? Morgens oder abends? Heute oder vor hundert Jahren? Die Gier nach Information und Zivilisationszeichen fällt ab, sachlich nehme ich die eigentümlichen schwarz-grau Effekte war, die der Landschaft eine unwirkliche Note verleihen und zugleich ein Verkitschen verhindern.

*  *  *

NORDKAP/INSEL MAGERÖY

Nordkap – das ist 71°10`22“N, der nördlichste Punkt Europas, das Ende, jedenfalls der „erfahrbaren“ Welt.

Unsere Anfahrt nachts, um die Mitternachtssonne zu erleben. Dann der Schock bei der Ankunft: knipsende Japaner, singende Deutsche, begeisterte Amerikaner bus- und schiffsladungsweise.

Es nieselt, dichter Nebel liegt über dem Felsplateau. Der Menschenmasse wird in riesigen Hallen Getränk angeboten, Souveniers. Dokumentationsfilme über Flora und Fauna der Insel werden gezeigt, dazwischen rollt die Faszination der Mitternachtssonne blutrot über die Leinwand.

Wir treten ins Freie, um irgendeine Himmelsrichtung auszuprobieren, staksen durch den Nebel, finden den Norden, wo die Steilküste 307m tief ins Meer abfällt. Bräunliche Schwärze, kein Licht, kein Schatten, ein Fleck, ein graues Loch zwischen dem Himmel und uns.

*  *  *

GIITU

Er schaut mich gespannt an, sagt aber kein Wort. Er ist klein, das dunkle Haar steht etwas vom Kopf ab, sein mageres Gesicht zeigt hohe Backenknochen. Er trägt eine ausgebeulte braune Hose und ein blaukariertes Hemd. „Bures – guten Tag“ wünsche ich ihm, worauf er mir „Bures, bures“ antwortet und mich in seiner Sprache etwas fragt. Doch ich kenne nur einige samische Worte und wir versuchen es in Englisch.

Ob die Rentiere, die ich heute morgen aus dem Hotelfenster auf dem Fjäll äsen sah, ihm gehören? Ja – er habe jedoch nur wenige Tiere hier, sein Sohn sei mit der großen Herde am Inarisee, während die Tochter in Kuusamo wohne. Wo ich lebe und ob ich zu Fuß unterwegs sei? Er sei nur während des Sommers hier oben, biete den Touristen kunsthandwerkliche Produkte an. „Duodji“ nennen die Samen diese nach ihrer Tradition hergestellten Einzelstücke aus Holz, Horn, Fell, Leder, Wolle, oder Wurzeln.

Ich kaufe einen kleinen Fisch aus Horn – die helle, flache Scheibe mit zarten Gravierspuren erinnert mich an die abstrakten Formen von Brâncusi.

 

Als ich mich verabschiede, bedankt sich der Mann für den Kauf und für das Gespräch. Mir fällt auf, seiner Höflichkeit fehlt jene Freundlichkeit, die ich aus südlichen Ländern kennen; sie erscheint mir wie ein geschichtlicher Vorläufer unserer Routine-Höflichkeit.

Mein „Giitu – danke“ klingt etwas kehlig, löst aber ein kaum bemerkbares Aufleuchten in seinen Augen aus.

Lappland, das äußerste Land am Nordrand der Welt. Ein Land, dessen Sprache das Wort „Krieg“ nicht kennt. Kein Land der Gegensätze, jedoch der Nuancen.


CAPRI 2004

DIE VIELGEPRIESENE

„Entdecken Sie Capri! Verfallen Sie dem Zauber der Insel, träumen Sie an poetischen Buchten! Vergangenheit und Gegenwart, Abgeschiedenheit und Mondänes liegen hier dichter beieinander als anderswo. Das Zeitlose macht einen spezifischen Charme aus. Capri ist eine Insel der Zwischentöne, die man in der Luft wahrnimmt, aber kaum in Worte zu fassen vermag.“

So lockt mein Capri-Reiseatlas. Auch erfahre ich darin, für Turgenjew war die Insel „die Inkarnation der Schönheit“. „Der ideale Ort“, schwärmte Peggy Guggenheim, „bist du einmal dort, kommst du sehr schwer wieder von ihm los“. Lobeshymnen dichtete auch Pablo Neruda diesem kleinen Stück Erde/bzw. Fels: “Capri, Felsenkönigin, in deinem Gewand, lilien- und amarantenfarben, lebte ich, das Glück vermehrend...“

Kurz: Capri – Insel im Golf von Neapel, ein Synonym für Snobismus und überschwängliches Gemüt. Capromania. Ich nehme mir vor, diese Vielgepriesene unter die Lupe zu nehmen. „Neapel sehen und dann sterben“ lautet ein bekannter Spruch. Gilt er auch für Capri?

*  *  *

CAPRI ALSO

Im Hafen von Neapel die Anlegestelle Mergellina. Geschleust durch Menschenmassen, gedrängt in das volle Schnellboot – morgen ist ein Marienfeiertag, ganz Neapel, scheint’s, will das Fest auf Capri feiern – gelotst Richtung Trauminsel.

 

Capri also. Vor mir. Teuer. Tatsache. Für mich nicht mehr ortloser Ort, atopischer Topos. Die Insel hat sich in einen grauen Hitzeschleier gewickelt. Nichts als Grau. Eine schreckliche Grisaille, trüb, kläglich. Werde im Schiff eingekeilt von unzähligen Neapolitanern, Neptun schaukelt uns gewaltig, bin fast am Kotzen, mit bella figura „is nix“. Dann, das Schiff ist beinahe schon im Hafen, erstrahlen die hohen Kalkfelsen der Insel, auch sie „tragen Capri-Weiß“, scheinen über der Landschaft „die Götter zu lächeln“ – so, als wär’s tatsächlich unmöglich, sich der gängigen Caprihymnen und der Mythen zu entledigen.

 

Im Hafen Marina Grande schlage ich eine Schneise durch das Gewühl der Menschenmenge, ahne, nun kann ich mich eine Woche lang mit dieser Insel beschäftigen wie eine Patientin mit einer Illustrierten in einem überfüllten Wartezimmer.

Per funicolare 142 Meter schnurstracks den Hügel hinaufgegondelt ins Herz von Capri, nehme ein Taxi, das mich nach Marina Picolla, dem entfernten Steilhang der Südküste fährt.

So wenig Straßen es auf der Insel gibt, meistens sind es bloße Aneinanderreihungen von Serpentinen, magenumwälzende Gefällstrecken („zu viel Berge auf zu engem Raum“, seufzte einst Rilke), so groß ist die Lust der Menschen hier am Fahren. Doch jetzt, um die Mittagszeit, muß der Taxifahrer auf der sehr engen Straße kaum mit einem Gegenverkehr rechnen. Trotzdem achtet er das Limit von Tempo 40, denn er liebt die Kurven, er streichelt jede einzelne. Als wir endlich die andere Seite der Insel und Marina Picolla erreichen, haben wir Länge und Breite des schmalen Asphaltbandes nahezu hundertprozentig ausgenutzt. Vor mir liegt das Hotel „Weber Ambassador“, ich kann dem Fahrer entrinnen. Auf seinem Gesicht meine ich so etwas wie Zufriedenheit zu bemerken.

 

Spüle im Hotelzimmer den ersten Capri-Schock mit einem kühlen weißen Tiberio“ hinunter. Auf der Terrasse kitschgeile Postkartenpoesie, überdimensioniert: unten die „blaue Limonade“, wie Brecht hier das Meer nannte (später treffe ich auch seine Genossen Lenin und Gorki – wie es scheint, waren sie alle keineswegs überzeugte Kapitalverächter), hoch oben ein helles gigantisches Himmelsloch, im Süden die drei berühmten Faraglioni-Felsen, Wahrzeichen Capris. Hier stimmt das touristische Klischee von der Perle Capri perfekt. Doch wo bleibt die sinnliche Glücksverheißung, die jeder Blick auf Meer, Fels und Himmel verleihen soll? Ich verspüre nichts, es macht nicht klick in mir.

Capri – eine Sehnsuchtsprojektion.


SCHOTTLAND 2000

UNSER HOTEL/EDINBURGH

Unser Hotel „Jarvis Learmonth“ liegt in der georgianische New Town – eine Satellitenstadt, erbaut um 1888. Auf der Terrasse fotografiere ich, irritiert von der aufreizend geradlinigen Anlage um mich herum, der Dinge Schatten, den sich in der Hitze blähende, Metastasen bildende Asphalt. Seine rissigen fahlen Blasen, ähnlich menschlicher Haut. Die Verlorenheit der Blätter im Schatten der Treppe. Das Verbrennen des Lichts.

*  *  *

SCHLAGOBERS

Ich komme ihm aus proletarischer Perspektive entgegen, mitten auf der verkehrsreichen David Street, zwischen Ramsch und Fastfood-Kette, sehe das Zuckerhäuschen schon von weitem. Licht tupft etwas Schlagobers auf seine Spitze, die Idylle ist perfekt. Emotional und mit Nationalstolz errichteten 1846 die Edinburgher hier, wo die David Straße in einem harten Neunziggradwinkel auf die Princes Street stößt, ihrem großen Dichter Walter Scott dieses Monument. Eine Pointe von Phantasiestück in gotischer Manier, riesenhaft und kindlich zugleich: Unter unzähligen verschnörkelten Bögen, Filialen und Kreuzblumen sitzt Sir Walter in schottischer Gelassenheit, sein Hund neben ihm; in den Nischen des neugotischen Baldachins nahen sich ihm wieder schwankende Gestalten, 64 Figuren seiner Romane.

Er muß sie ertragen. Wie auch den hektischen Autoverkehr zu seinen Füßen.

*  *  *

ZUFLUCHT

Schönste Zuflucht vor dem Weltende, zu finden in einem Edinburgher Pub / Royal Mile, in einem Eckgebäude, auf dessen grauschimmernder Mauer in gelben Lettern die letzte Adresse gepinselt ist: „THE WORLD’S END“. Daneben eine illusionistische Wandmalerei, eine Art Trompe l’oeil, auf der sich mühevoll eine Hand ausstreckt und versucht, mit allerletzter Kraft das rettende Glas Bier zu erreichen.

Man sollte unbedingt Theodor Fontane berücksichtigen und hier einkehren.„Berge von unten, Kirchen von außen, Kneipen von innen“ meinte er.

Also dann: Ein Königreich für ein „Jakobite Ale“!

Und dann stellt sich nach mehrerem schottischen Starkbier der beglückende Zustand ein, in ein ganz anderes Zeitgefühl zu versinken, in eine Art „manana Mentalität“ – was bei den Spaniern soviel heißt wie „Morgen ist auch noch ein Tag...“. Als ein Spanier einen Hochländer fragte, ob es ein gälisches Wort für „manana“ ( morgen) gebe, sagte der Mann aus den Highlands: „Aye, ich glaube nicht, daß wir im Gälischen einen Ausdruck für etwas derart Dringendes haben“

*  *  *

AM RANDE

Die Hebriden – „Inseln am Rande des Meers“.

Rätselhafte Ruhe, schwarzgerandete Helligkeit, vom Wasser reflektiert. Verschwunden in der Landschaft die vereinzelten Häuser, die Dissonanz der wenigen Senkrechten, ihre Demonstration der Überlegenheit, ausgelöscht die pittoresken Posen der Wolken. Halbheiten fallen ab, Sprechblasen lösen sich auf, hier reicht es noch, Sterne, Wind, Steine zu deuten. Tag und Nacht überlagern sich mit sanfter Geste. Und klein der Mensch.

*  *  *

WASSERFINGER/INSEL SKY

Hauptrolle hier spielt das Wasser, der Regen, die Wolken. Wir wandern in einer neblig milchigen Suppe, B. köchelt auf kleiner Flamme.

Es tut gut: Diese Landschaft kann geschminkte Haut nicht ausstehen, ich fädle mein nacktes Gesicht durch die feuchte Stunde, mir wachsen Wasserfinger, Wolkenhaar, Farben in Moll kriechen in meine Augen, versinken. Die programmatische Traurigkeit, die subkutan alles durchzieht, geht mir nicht auf die Nerven, sie beruhigt, löscht in mir, im Augenblick eines Herzschlags, den drängenden Rhythmus von Hoffnung und Gezeiten.

*  *  *

DIE STUNDE

Die Stunde hält Nachtwache. Das Schreibpapier liegt auf dem Regal neben der Taschenlampe. Ich murmle, daß ich schon halb schlafe, im Schlaf fällt kein Vogel aus dem Nest. B. schlingt den Arm um mich, schützt mich vor irgendetwas, dem Gestern. Über dem Fenster spult ein Stern sein Licht ab, hängt’s in unser Zimmer. Rumänien ist fern.

 

Die Eskimos haben zweiundfünfzig Ausdrücke für Schnee, weil er für sie wichtig ist. Wir haben für Liebe einen.


SÀMOS 2002

NUR DAS MEER

Wohnen nahe am Ufer, in einem weißen Haus mit roter Tür. Helle Dachziegel bedecken es in rhythmisch- und farblichem Gleichklang. Überall Blumen: Oleander in allen Tönen, Marmorweiß bis Rubinrot, Bougainvillea purpurfarben, tellergroße, porzelanartige Blüten der Magnolie. Palmen pinseln mit ihren Wedeln den Himmel blau. Ein bisschen Bleigrau ist dabei, das die Grelle dämpft. In der Nähe des Hauses dekorativ eine alte Ölpresse, festgezurrt in dieser Liegestuhl-Idylle. Eben der Pedanterie deutscher Geranien entkommen, gerate ich nun in die süße Lieblichkeit griechischer Vegetation.

Nur das Meer ist ohne Behübschung. Betäubende Helle über dem Wasser, losgelöst von allem Sein. Der Schatten unter den Talisken, stets farblos kühl, gebunden an die unabdingbare Notwendigkeit des Lichts.

*  *  *

ATEMZÜGE

Das Fenster ist offen. Draußen lacht höhnisch und schnell ein Vogel. Ein winziges Stück Sommer flitzt vom Baum. Ich blicke auf die letzten Monate zurück: Viel Zeit vertan, einiges zu Ende geführt, an errichtete Steinhaufen getreten, mich vorangetastet an Neues, Fremdes.

Jetzt Sonne. Atemzüge.


© Copyright 2007 by Ilse Hehn