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FRANKREICH 2003
DIE LOIRE
Weg von der Autobahn – zur Loire abzweigen.
Endlich atmet das Land. Kleine Inseln schlafen als spitze
Aprikosenkerne zwischen den Schalen der Steine, verloren im sandigen Wasser.
Die Landschaft läßt Traum und Sehnsucht wach werden.
Schlösser, vom Wasser umarmt. Der Gleichklang Gärten,
Architektur und Wasser. Ein Lächeln, zauberhafte Leichtigkeit über den von
der Zeit zurückgelassenen Schönen.
Breite Wassergräben um die Schlösser, hier klar und
durchscheinend, dort trüb, geheimnisvoll, Moortüpfchen wie Tränen auf der
Oberfläche. Die Schlossgärten – „verpflanzte“ Symbolik: Gärten der Liebe,
je einer für die zärtliche, die tragische, die leidenschaftliche, die vergängliche
Variante.
Ich flüchte in den Irrgarten des Schlosses. Chenonceau
– grüne Variante des menschlichen Seelenlabyrinths. Ein Gefühl, das in Choderlos
de Laclos Stück „Liaisons dangereuses“mich berührte.
Die Loire bei Tours:Kein dramatisches Steilufer,
keine Lorelei – sehr schmächtig für ihr altes, weites Bett wirkt sie verloren
wie die Einsamkeit nachts im grand liteines französischen Hotels.
Verloren, aber nicht traurig. Scheint zu fragen: Bin ich Wasser? Sand? Wiese?
Dieses Sich-Teilen, statt sich zu entscheiden, sich im überheißen Sommer
„Beinahe-Verdorren/ Verlieren“ und dann das plötzliche Aufbäumen, hier an
der Brücke von Tours. Das Wasser leckt an dem gewaltigen Brückenpfeiler,
tanzt um die Steine mit ungeahntem Temperament und beansprucht auf einmal
wieder sein großes Bett von einer Kante zur anderen.
* * *
HONFLEUR ZWISCHEN 30 UND 40 GRAD
Die bezaubernde Leichtigkeit des Lichts, welche die
Impressionisten hier fanden und malten, schwebt heute nicht in der Luft.
Glut schneidet ins Fleisch, das Licht, geschmolzene Butter, liegt als Schweißfilm
auf meiner Haut; kaum vermag ich zu atmen. Das Wasser in mir kocht, verkocht,
ich zucke wie ein lebender Fisch in der Pfanne.
Sie ziehen mich magnetisch an. Orte wie das Vieux Bassin,
die Lieutenance, Sainte-Catherine, hinter dem Kai, wo Schiffszimmerleute
Gott eine Kirche aus Holz bauten in Form eines umgestülpten Schiffes. Über
mir sein hölzerner Rumpf, gewölbt, gesund. Man fühlt sich geborgen in der
irdischen Szenerie. Ich könnte hier Äpfel essen und ein Bild malen, dies
als Dank an Gott verstehen.
Vor der Sainte-Catherine. In uralter Meervertrautheit
ziehen sich Fischerstimmen zurück ins Kirchendach, in Schindeln, glatt wie
Fischschuppen. Passanten skandieren das, was ist.
* * *
MONT ST.-MICHELE
Die Abbaye du Mont St-Michel, auf ihrem felsigen Eiland
über dem Meer, nur über einen Damm erreichbar, seit über tausend Jahren
eine der wichtigsten Pilgerstätten Frankreichs. Eingekeilt in einer Schar
von Besuchern gehe ich mit B. die steile Grande – Rue hinauf, eine enge
Straße, die ihren Namen kaum verdient. Ab und zu über die Steinmauern ein
Blick aufs Meer; aufgequollenes Licht hängt über dem Wasser, das sich gerade
zurückzieht, einen silbernen Sandschleier hinterlässt.
B. zwängt sich mit dem Menschenstrudel durch ein Labyrinth
von Gängen, Krypten, Sälen und Kirchen, geht weiter, den Berg hinauf. Mich
zieht es ins Watt. Ich suche Distanz zu dieser sonderbaren Pyramide. Wie
bei Menschen – erst mit dem Umfeld im Blick, ahne ich mehr von ihrer Seele.
Unten im Watt. Die Sonne schwenkt ihre Fahne, das Meer
legt seinen Sand zum Trocknen aus. Möwen ruhen in der Stille, Vagabunden
im Unbestimmten.
Der Berg liegt vor mir wie in einem Nest aus Wasser.
Als würde er Gott tragen auf seiner Spitze. Das klirrende Gelächter der
Sonne. Das knarzende Fluchen der Orkane. Der Himmel ist plattgetreten. Doch
eine Legende hat er noch – Saint Michel: Diesmal erschien er dem Bischof
von Avranches, wies ihn an, auf dem Felskegel im Watt ein Oratorium zu bauen,
nur bei Ebbe zugänglich.
Dies war im Jahr 708. Sie bauten das Oratorium, im Laufe
der Jahre wurde mehr daraus: übereinander getürmte Romanik und Gotik, adoramus
te...
Barfuß laufe ich über eine weite Fläche von feinem,
nassem Sand, hier und da ein Wasserauge, Priele, die den Himmel spiegeln.
Farben lösen sich auf, Sand und Himmel verschmelzen zu einer weichen Stille.
Fern die Hektik der schwülen, engen Straße, die zur Spitze von Mont St-Michel
sich hoch drängt.
In dem weit ausholenden Bogen der Landschaft die Spur
der Möwen im Sand, ewig vergänglich. Zärtlich beieinander Dimensionen: das
Große, das Kleine.
Es ist 16.35 Uhr, die Flut kommt 18.30. Auf dem Parkplatz
aufgestellte Warntafeln bezeichnen täglich neu die Stunden des wiederkehrenden
Wassers, das den Parkplatz zur Gänze überflutet. Es heißt, nirgends an der
bretonischen Küste kommt die Flut so schnell heran wie an diesem Abschnitt.
Wie ein galoppierendes Pferd, sagen die Bretonen.
Ich gehorche der Warnung, breche vorzeitig auf. Der
Tidenhub in der Bucht des Mont St-Michel ist einer der höchsten weltweit.
LAPPLAND 2005
Vielleicht gibt es keine schönere Art, Geld auszugeben,
als mit der Finnair in Helsinki zu starten, in Lappland zu landen und mit
einem Schlitten und fünf Huskys über die weiße Haut der Erde hinwegzugleiten.
26. März:
Frankfurter Flughafen. Rolltreppen, Förderrollen, Klapptafeln,
Überwachungskameras. Du gibst dein Gepäck ab, wirst ausgeleuchtet, außer
dem Paßbeamten guckt dir kein einziger ins Gesicht, die Türen schließen
sich hinter dir, die LH wird in Bewegung gesetzt, du sitzt im Polster, dein
Himmel heißt Kerosin, Windstille, das Klima rieselt leise. Im Flugzeugfenster
verschiebt sich das Grün der Landschaft und der Beton Frankfurts Richtung
Süden, dem Steward, der die Sicherheitsvorkehrungen aus dem Lautsprecher
gestisch begleitet, huscht für keinen winzigen Moment eine Regung durchs
Gesicht, du spürst die ganz intime Genugtuung, inmitten der durchrationalisierten
Welt der Flugpläne und Computerhirne, der Fließbänder, Rechenzentren und
genormten Bewegungen, so etwas wie Freude zu empfinden, Sehnsucht nach Schnee.
Helsinki. Umstieg in die Finnair.
Es beginnt zu menscheln. In der Gangway 63 öffnet sich
unaufgefordert die lange Menschenschlange, lautlos und geduldig bietet sie
den Familien mit Kindern den Vortritt zum Flugzeug. In der Finnair teilt
man den Kleinen Bücher und Spielzeug aus. Zum ersten Mal sehe ich eine Stewardess,
die über fünfzig ist.
Der Flug bis Kittilä wird kurz sein, der Bildschirm
über mir zeigt seine Dauer an: Lentoaika määränpäähän 1:10 – wobei
ich kein ä zu viel und keines zu wenig notiere.
Vor einigen Jahren habe ich diese Gegend mit dem Auto
durchstreift, jetzt kann ich sie von oben sehen: Tieferstarrte Erde, auch
die Flüsse sind erfroren, im eisigen weißen Nichts sind die Straßen die
einzige Spur des Lebendigen.
Ich habe Carl von Linnès Buch „Lappländische Reise“
bei mir.
„Ovidii descriptioaetatis argenteae“
hat bei den Lappen immer noch seine Gültigkeit. „Die Erde wird nicht
von der Pflugschar zerfleischt, Eisenwaffen rasseln nicht, man dringt nicht
ein ins Innere der Erde, man streitet nicht um Grenzen, die Erde schenkt
alles von selbst“. (Ovids Metamorphosen).
1732 war es, als Carl von Linné diese Zeilen notierte.
Der nördliche Polarkreis sowie Rovaniemi samt seiner
großangelegten Santa Claus-Vermarktung bleibt hinter uns, wir fliegen auf
Sápmi zu – das Land der Samen.
Dieser riesige Raum am Rande der Welt hat Anteil an
den vier Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, wird deshalb
auch das „Lappland über vier Reiche“ genannt. Es gehört zu den am wenigsten
besiedelten Gebieten unserer Erde. Weite Landstriche sind unbewohnt, andere
weisen nur eine Dichte von 0 bis 1 Einwohner pro Quadratkilometer auf. Der
nordwestliche Teil Finnlands im Gebiet von Kittilä, Kolari und Muonio ist,
so steht es in unserem Reisehandbuch, „eine der letzten als unberührt erhaltenen
Wildnisse in Europa, dessen Fjällbäche nach Westen in den Muoniojoki und
nach Osten in den Ounasjoki fließen“. Da wollen wir hin.
Vom Flughafen Kittilä geht es nord-westlich in Richtung
schwedische Grenze, an Äkäsompolo vorbei, zu unserer Basishütte Äkäskero.
Schon hinter den letzten Häusern von Kittilä sieht man keine Menschen mehr,
kein Auto. Platz zum Atmen, Luft zum Trinken, ein weites, stilles Land.
Die Bäume, windzerzaust und krummgequält halten sie stand, ohne daß je ein
Sturm ihnen einen Zweig knicken könnte. Nur wenn sie alt sind, fallen sie.
Die Strapazen des Fluges noch in den Knochen, werde ich auf einmal wieder
wach.
Der Blick auf den Schnee ist wie ein Tonikum. Es versagt
nie, und: es kann süchtig machen. Eine einsam vor sich hinratternde Maschine
mitten im Weiß bekommt für mich ein bedrohliches Eigenleben – als tobe sie
in unstillbarem Zorn wie ein stahlgewordenes, in die Erde gepfähltes wildes
Tier. Dann wieder die Leere.
* * *
27. März:
8 Uhr morgens fahren wir ins Hundecamp, welches etwa
20 km von unserer Basishütte Äkäskero entfernt liegt. Das Team, mit welchem
ich die nächsten Tagen in der Einöde verbringen werde, besteht aus neun
Personen: zwei junge Männer aus der Schweiz, ein Rentner mit seinem 4o jährigen
Sohn aus der Stuttgarter Gegend, ein älterer Herr aus Frankfurt, unser Schweizer
Guide Reno, dessen Freundin, und wir beide – B. und ich.
Im Camp erhält jeder von uns einen Schlitten, man stellt
kurz die Handhabung der verschiedenen Bremsen vor, uns drängen sich nervöse
Fragen auf: Was machst du mit der Eiskralle, den beiden Schneeankern, den
zahlreichen Bremsvorrichtungen und vor allem: Wann machst du was? Aber,
so Reno in seiner jugendlichen Gelassenheit: „Mit der Zeit kapiert ihr alles...“.
Er sollte Recht behalten.
Jedem Teammitglied werden fünf Huskys zugeteilt, wir
lernen ihre Namen kennen ( sie sind auch im Halsband eingenäht ), ihre Rangfunktionen,
wir erfahren etwas über das Einschirren der Hunde und über ihr Einspannen
vor den Schlitten mit Hilfe der neck-line, tack-line, gang-line. Wer meint,
daß man all dies sofort kapiert und richtig ausführt, irrt.
Die Huskys laufen im Tandem-Hitch hintereinander. Nome
und Nomand sind meine Leithunde – Leithunde sind am wichtigsten, sie bleiben
auch bei Schneesturm und Dämmerung auf der richtigen Spur – Odin als team-dog
bildet die Mitte des Gespanns, während hinter ihm Xandoo und Grumpy die
Funktion der weel-dogs übernehmen. Einmal eingespannt, stimmen fünfundvierzig
Hunde vor neun Schlitten ein Kläffen an, das dem noch nicht huskygeprüften
Menschen durch Mark und Bein geht. Die Unruhe der Hunde, gepaart mit einer
irren, nervösen Vorfreude, überträgt sich auch auf uns und, vollkommen den
Huskys vertrauend, rasen wir los. Erste Probefahrt!
Der Wind pustet um unsere kleine Gruppe, keiner von
uns weiß, auf was er sich eingelassen hat. Fest stehen wir mit breiten schweren
Schuhen, die wir im Camp erhielten, auf der rechten und linken Kufe unseres
Schlittens, um richtigen Halt bemüht. (Um jeden Irrtum auszuräumen: man
sitzt nicht in einem Husky-Schlitten, man steht auf ihm, hinter seiner überspannten
Ladefläche). Jeder von uns trägt mindestens zwei bis drei Paar Wollsocken
gegen die Kälte. Die Füße der Samen bleiben in den Schuhen nackt: als Wärmeisolierung
verwenden sie Bündel von „Schuhgras“. Abgeschnittenes Riedgras wird weichgeklopft,
getrocknet und zusammengerollt, dann verteilen sie es geschickt im Inneren
des Schuhes – das Gras wärmt wesentlich besser als normale Strümpfe, behaupten
sie.
Nome und Nomand, beide Rüden und Brüder, sind so lauffreudig,
daß sie meinen Karren fast umreißen, sie rasen viel zu schnell, stecken
ständig mit ihren Nasen im Schlitten, der vor mir fährt, dauernd muß ich
die Mattenbremse einsetzen und belaste dadurch die Hunde stark. Die Keuchenden
tun mir leid, werde Reno darauf aufmerksam machen.
* * *
28. März:
Aufreizende Unruhe, heute geht die Tour los. Wir haben
eine weiße Sonne, 20 Grad unter Null, einen kundigen Begleiter und etwa
55 Kilometer vor uns, ein für Lappland typisches Wald- und Palsamoorgebiet.
Aufbruch 9.30 Uhr. Renotauscht einen meiner
zu kräftigen Leithunde aus, an Stelle von Nomand bekommt Nome nun die grauweiße
Crazy zur Seite. Nome, braunes Fell, braune Augen, kläffend Zähne zeigend,
kann die Abfahrt kaum erwarten, zerrt an der Leine, keift mit Crazy, beißt
ihr ins Ohr. Die drei anderen Hunde haben weißes Fell und blaue Augen. Odin,
dessen rechtes Auge braun und hellblau gesprenkelt ist, wirkt sehr scheu,
weicht mir aus, läßt sich dennoch von mir problemlos einschirren. Xandoo
und Grumpy zeigen eine größere Annäherungsbereitschaft und reagieren freundlich
auf mein Streicheln. Ich knie im Schnee, kraule ihren Hals, sie legen den
Kopf an meine Schulter, schließen die Augen. Laut loben solle man nur die
Leithunde, um deren Autorität vor den anderen zu stärken, empfiehlt R. Doch
ich flüstere auch Odin zahlreiche O.K.s ins Ohr.
Wir verteilen unseren Nahrungsproviant und das Hundefutter
für die kommenden Tage auf die neun Schlitten. Ich lade mein privates Gepäck,
die Hundeleinen fürs Nachtlager und einen 30 kg schweren Futtersack auf
meinen Flitzer. Dann Einschirren der Hunde in ihre Kummets aus Leder, Einspannen,
ihr tobendes Bellen, unsere innere Nervosität. Keiner von uns lenkte je
einen Hundeschlitten, abgesehen von gestern. Als in unserer Reihe ganz vorne
Reno sich bückt, um die zwei seitlichen Schneekrallen seines Schlittens
aus dem Eis zu buddeln, hat das sofort jeder der fünfundvierzig Hunde geschnallt,
ihr Bellen und Zerren an den Schlitten grenzt jetzt fast an Hysterie. Ich
neige mich seitlich tief in den Schnee, um auch meinen Schlitten frei zu
bekommen, reiße die Eiskralle heraus – sicherheitshalber steckte ich nur
die eine ein und auch diese nicht sehr tief – hebe sie hoch, die Meute jagt
voran, ich versuche den Schlitten in Griff zu kriegen, verstaue blitzschnell
die Kralle am Schlittenbug, atme dann auf, alles an mir ist bestens durchblutet.
Ein Stoßgebet, wir kommen in Fahrt.
SIZILIEN 2004
AGRIGENT
Weit weg von der Leichtigkeit der spontanen Schnappschüsse
das knipsende Heer deutscher Touristen, die düsterernst keine Gräben des
Klischees und der Pose überspringen, als hieße es: Zeit zu fotografieren,
Zeit zu sterben...Gleich wird der Mann neben mir nach seiner Digitalkamera
greifen, die zeitabgegriffenen Tempelsäulen fotografieren, den im Gras liegenden,
gestürzten Atlanten, die junge Frau mit dem Fickblick inmitten der dunstigen
Abgestorbenheit der Steine; später wird er die Briefmarke lecken, die auf
einer lichtdurchfluteten Postkarte nach Deutschland fliegt, hinweg über
diese Insel, über verdorrte Grasbüschel, Kondome in der Macchia, Normannen-und
Ruinenästhetik, Mosaik und Maultiere, über das verlorene„Cinema
Paradiso“ (der Film wurde hier gedreht),die aufgedunsene
Krake der Mafia, über die Osmose der Geschichte, diese existentielle Komödie
Pirandellos, hinweg über all das teatro dei pupiSiziliens.
* * *
SPLITTER
Einst hieß er Hypsas – der Fluß, heute kahl,
nackt, ein totes Bett in die Macchia gekippt. Es fehlt sogar die Metapher
von Wasser. Darüber ein versteinerter Ort, Siziliens beste Illusion: Die
Akropolis von Selinunt.
Der Rest sind Touristen. Die Steine ringsum belegt jeder
von ihnen mit seinen eigenen Verzerrungen, fotografiert, in der langsamen,
irrsinnigen Umarmung der Sonne, das Chaos Geschichte. Zeit-Splitter, Reise-Splitter.
* * *
BEI MESSINA/SKYLLA UND CHARYBDIS
Kaum ein Wort sagt zu wenig, fast alle Wörter sagen
zu viel. Als hätte unsere Sprache einen Hang zur Großsprecherei. Als wären
die Worte Triebwesen, Abkömmlinge eines Denkens, das wir nicht proportionieren
können und nicht steuern. Skylla – welch Wort voller unheimlicher
Geschöpfe der Tiefe mit Riesenleibern und phosphoreszierenden Augen. Charybdis
– auch dieses Wort quillt über, „die Ruder sinken und hochauf spritzt der
Schaum und bedeckt die beiden Gipfel der Felsen..., darunter die wasserstrudelnde
Göttin... weh dir, wofern du der Schlurfenden nahest!“ (Homer)
Fürchterlich bellendeWorte, sie machen sich
frei, gebären Ungeheuer, Angst und Tod, während Odysseus schon die Fahrt
fortsetzt, seine Odysee geht weiter und wird noch Jahre dauern. Bis ihm
das, was er hellwach und suchend mit allen Kräften und Sinnen nicht erreichte,
im Schlaf zufallen wird: die Heimkehr.
NORWEGEN 2002
GRAU
Die weit ins Land hineinreichenden Fjorde unterbrechen
immer wieder die Nord-Süd-Straßenverbindung. Uns bringt die Fähre über den
Tysfjord. Grauer Himmel. Graues Wasser. Grau in allen Schattierungen. Sattes
Schiefergrau. Mattes Hellgrau. Zartes Blaugrau. Schales Graugrau. Die schwere
Düsternis der Bilder Edward Munchs findet hier ihr Spiegelbild. Es erfaßt
mich ein Zustand irritierender Orientierungslosigkeit: Wo ist was? Morgens
oder abends? Heute oder vor hundert Jahren? Die Gier nach Information und
Zivilisationszeichen fällt ab, sachlich nehme ich die eigentümlichen schwarz-grau
Effekte war, die der Landschaft eine unwirkliche Note verleihen und zugleich
ein Verkitschen verhindern.
* * *
NORDKAP/INSEL MAGERÖY
Nordkap – das ist 71°10`22“N, der nördlichste Punkt
Europas, das Ende, jedenfalls der „erfahrbaren“ Welt.
Unsere Anfahrt nachts, um die Mitternachtssonne zu erleben.
Dann der Schock bei der Ankunft: knipsende Japaner, singende Deutsche, begeisterte
Amerikaner bus- und schiffsladungsweise.
Es nieselt, dichter Nebel liegt über dem Felsplateau.
Der Menschenmasse wird in riesigen Hallen Getränk angeboten, Souveniers.
Dokumentationsfilme über Flora und Fauna der Insel werden gezeigt, dazwischen
rollt die Faszination der Mitternachtssonne blutrot über die Leinwand.
Wir treten ins Freie, um irgendeine Himmelsrichtung auszuprobieren,
staksen durch den Nebel, finden den Norden, wo die Steilküste 307m tief
ins Meer abfällt. Bräunliche Schwärze, kein Licht, kein Schatten, ein Fleck,
ein graues Loch zwischen dem Himmel und uns.
* * *
GIITU
Er schaut mich gespannt an, sagt aber kein Wort. Er
ist klein, das dunkle Haar steht etwas vom Kopf ab, sein mageres Gesicht
zeigt hohe Backenknochen. Er trägt eine ausgebeulte braune Hose und ein
blaukariertes Hemd. „Bures – guten Tag“ wünsche ich ihm, worauf er mir „Bures,
bures“ antwortet und mich in seiner Sprache etwas fragt. Doch ich kenne
nur einige samische Worte und wir versuchen es in Englisch.
Ob die Rentiere, die ich heute morgen aus dem Hotelfenster
auf dem Fjäll äsen sah, ihm gehören? Ja – er habe jedoch nur wenige Tiere
hier, sein Sohn sei mit der großen Herde am Inarisee, während die Tochter
in Kuusamo wohne. Wo ich lebe und ob ich zu Fuß unterwegs sei? Er sei nur
während des Sommers hier oben, biete den Touristen kunsthandwerkliche Produkte
an. „Duodji“ nennen die Samen diese nach ihrer Tradition hergestellten Einzelstücke
aus Holz, Horn, Fell, Leder, Wolle, oder Wurzeln.
Ich kaufe einen kleinen Fisch aus Horn – die helle,
flache Scheibe mit zarten Gravierspuren erinnert mich an die abstrakten
Formen von Brâncusi.
Als ich mich verabschiede, bedankt sich der Mann für
den Kauf und für das Gespräch. Mir fällt auf, seiner Höflichkeit fehlt jene
Freundlichkeit, die ich aus südlichen Ländern kennen; sie erscheint mir
wie ein geschichtlicher Vorläufer unserer Routine-Höflichkeit.
Mein „Giitu – danke“ klingt etwas kehlig, löst aber
ein kaum bemerkbares Aufleuchten in seinen Augen aus.
Lappland, das äußerste Land am Nordrand der Welt. Ein
Land, dessen Sprache das Wort „Krieg“ nicht kennt. Kein Land der Gegensätze,
jedoch der Nuancen.
CAPRI 2004
DIE VIELGEPRIESENE
„Entdecken Sie Capri! Verfallen Sie dem Zauber der Insel,
träumen Sie an poetischen Buchten! Vergangenheit und Gegenwart, Abgeschiedenheit
und Mondänes liegen hier dichter beieinander als anderswo. Das Zeitlose
macht einen spezifischen Charme aus. Capri ist eine Insel der Zwischentöne,
die man in der Luft wahrnimmt, aber kaum in Worte zu fassen vermag.“
So lockt mein Capri-Reiseatlas. Auch erfahre ich darin,
für Turgenjew war die Insel „die Inkarnation der Schönheit“. „Der ideale
Ort“, schwärmte Peggy Guggenheim, „bist du einmal dort, kommst du sehr schwer
wieder von ihm los“. Lobeshymnen dichtete auch Pablo Neruda diesem kleinen
Stück Erde/bzw. Fels: “Capri, Felsenkönigin, in deinem Gewand, lilien- und
amarantenfarben, lebte ich, das Glück vermehrend...“
Kurz: Capri – Insel im Golf von Neapel, ein Synonym
für Snobismus und überschwängliches Gemüt. Capromania. Ich nehme mir vor,
diese Vielgepriesene unter die Lupe zu nehmen. „Neapel sehen und dann sterben“
lautet ein bekannter Spruch. Gilt er auch für Capri?
* * *
CAPRI ALSO
Im Hafen von Neapel die Anlegestelle Mergellina. Geschleust
durch Menschenmassen, gedrängt in das volle Schnellboot – morgen ist ein
Marienfeiertag, ganz Neapel, scheint’s, will das Fest auf Capri feiern –
gelotst Richtung Trauminsel.
Capri also. Vor mir. Teuer. Tatsache. Für mich nicht
mehr ortloser Ort, atopischer Topos. Die Insel hat sich in einen grauen
Hitzeschleier gewickelt. Nichts als Grau. Eine schreckliche Grisaille, trüb,
kläglich. Werde im Schiff eingekeilt von unzähligen Neapolitanern, Neptun
schaukelt uns gewaltig, bin fast am Kotzen, mit bella figura „is nix“. Dann,
das Schiff ist beinahe schon im Hafen, erstrahlen die hohen Kalkfelsen der
Insel, auch sie „tragen Capri-Weiß“, scheinen über der Landschaft „die Götter
zu lächeln“ – so, als wär’s tatsächlich unmöglich, sich der gängigen Caprihymnen
und der Mythen zu entledigen.
Im Hafen Marina Grande schlage ich eine Schneise durch
das Gewühl der Menschenmenge, ahne, nun kann ich mich eine Woche lang mit
dieser Insel beschäftigen wie eine Patientin mit einer Illustrierten in
einem überfüllten Wartezimmer.
Per funicolare142 Meter schnurstracks den Hügel
hinaufgegondelt ins Herz von Capri, nehme ein Taxi, das mich nach Marina
Picolla, dem entfernten Steilhang der Südküste fährt.
So wenig Straßen es auf der Insel gibt, meistens sind
es bloße Aneinanderreihungen von Serpentinen, magenumwälzende Gefällstrecken
(„zu viel Berge auf zu engem Raum“, seufzte einst Rilke), so groß ist die
Lust der Menschen hier am Fahren. Doch jetzt, um die Mittagszeit, muß der
Taxifahrer auf der sehr engen Straße kaum mit einem Gegenverkehr rechnen.
Trotzdem achtet er das Limit von Tempo 40, denn er liebt die Kurven, er
streichelt jede einzelne. Als wir endlich die andere Seite der Insel und
Marina Picolla erreichen, haben wir Länge und Breite des schmalen Asphaltbandes
nahezu hundertprozentig ausgenutzt. Vor mir liegt das Hotel „Weber Ambassador“,
ich kann dem Fahrer entrinnen. Auf seinem Gesicht meine ich so etwas wie
Zufriedenheit zu bemerken.
Spüle im Hotelzimmer den ersten Capri-Schock mit einem
kühlen weißen „Tiberio“hinunter. Auf der Terrasse kitschgeile
Postkartenpoesie, überdimensioniert: unten die „blaue Limonade“, wie Brecht
hier das Meer nannte (später treffe ich auch seine Genossen Lenin und Gorki
– wie es scheint, waren sie alle keineswegs überzeugte Kapitalverächter),
hoch oben ein helles gigantisches Himmelsloch, im Süden die drei berühmten
Faraglioni-Felsen, Wahrzeichen Capris. Hier stimmt das touristische Klischee
von der Perle Capri perfekt. Doch wo bleibt die sinnliche Glücksverheißung,
die jeder Blick auf Meer, Fels und Himmel verleihen soll? Ich verspüre nichts,
es macht nicht klick in mir.
Capri – eine Sehnsuchtsprojektion.
SCHOTTLAND 2000
UNSER HOTEL/EDINBURGH
Unser Hotel „Jarvis Learmonth“ liegt in der georgianische
New Town – eine Satellitenstadt, erbaut um 1888. Auf der Terrasse fotografiere
ich, irritiert von der aufreizend geradlinigen Anlage um mich herum, der
Dinge Schatten, den sich in der Hitze blähende, Metastasen bildende Asphalt.
Seine rissigen fahlen Blasen, ähnlich menschlicher Haut. Die Verlorenheit
der Blätter im Schatten der Treppe. Das Verbrennen des Lichts.
* * *
SCHLAGOBERS
Ich komme ihm aus proletarischer Perspektive entgegen,
mitten auf der verkehrsreichen David Street, zwischen Ramsch und Fastfood-Kette,
sehe das Zuckerhäuschen schon von weitem. Licht tupft etwas Schlagobers
auf seine Spitze, die Idylle ist perfekt. Emotional und mit Nationalstolz
errichteten 1846 die Edinburgher hier, wo die David Straße in einem harten
Neunziggradwinkel auf die Princes Street stößt, ihrem großen Dichter Walter
Scott dieses Monument. Eine Pointe von Phantasiestück in gotischer Manier,
riesenhaft und kindlich zugleich: Unter unzähligen verschnörkelten Bögen,
Filialen und Kreuzblumen sitzt Sir Walter in schottischer Gelassenheit,
sein Hund neben ihm; in den Nischen des neugotischen Baldachins nahen sich
ihm wieder schwankende Gestalten, 64 Figuren seiner Romane.
Er muß sie ertragen. Wie auch den hektischen Autoverkehr
zu seinen Füßen.
* * *
ZUFLUCHT
Schönste Zuflucht vor dem Weltende, zu finden in einem
Edinburgher Pub / Royal Mile, in einem Eckgebäude, auf dessen grauschimmernder
Mauer in gelben Lettern die letzte Adresse gepinselt ist: „THE WORLD’S END“.
Daneben eine illusionistische Wandmalerei, eine Art Trompe l’oeil, auf der
sich mühevoll eine Hand ausstreckt und versucht, mit allerletzter Kraft
das rettende Glas Bier zu erreichen.
Man sollte unbedingt Theodor Fontane berücksichtigen
und hier einkehren.„Berge von unten, Kirchen von außen, Kneipen von innen“
meinte er.
Also dann: Ein Königreich für ein „Jakobite Ale“!
Und dann stellt sich nach mehrerem schottischen Starkbier
der beglückende Zustand ein, in ein ganz anderes Zeitgefühl zu versinken,
in eine Art „manana Mentalität“ – was bei den Spaniern soviel heißt wie
„Morgen ist auch noch ein Tag...“. Als ein Spanier einen Hochländer fragte,
ob es ein gälisches Wort für „manana“ ( morgen) gebe, sagte der Mann aus
den Highlands: „Aye, ich glaube nicht, daß wir im Gälischen einen Ausdruck
für etwas derart Dringendes haben“
* * *
AM RANDE
Die Hebriden – „Inseln am Rande des Meers“.
Rätselhafte Ruhe, schwarzgerandete Helligkeit, vom Wasser
reflektiert. Verschwunden in der Landschaft die vereinzelten Häuser, die
Dissonanz der wenigen Senkrechten, ihre Demonstration der Überlegenheit,
ausgelöscht die pittoresken Posen der Wolken. Halbheiten fallen ab, Sprechblasen
lösen sich auf, hier reicht es noch, Sterne, Wind, Steine zu deuten. Tag
und Nacht überlagern sich mit sanfter Geste. Und klein der Mensch.
* * *
WASSERFINGER/INSEL SKY
Hauptrolle hier spielt das Wasser, der Regen, die Wolken.
Wir wandern in einer neblig milchigen Suppe, B. köchelt auf kleiner Flamme.
Es tut gut: Diese Landschaft kann geschminkte Haut nicht
ausstehen, ich fädle mein nacktes Gesicht durch die feuchte Stunde, mir
wachsen Wasserfinger, Wolkenhaar, Farben in Moll kriechen in meine Augen,
versinken. Die programmatische Traurigkeit, die subkutan alles durchzieht,
geht mir nicht auf die Nerven, sie beruhigt, löscht in mir, im Augenblick
eines Herzschlags, den drängenden Rhythmus von Hoffnung und Gezeiten.
* * *
DIE STUNDE
Die Stunde hält Nachtwache. Das Schreibpapier liegt
auf dem Regal neben der Taschenlampe. Ich murmle, daß ich schon halb schlafe,
im Schlaf fällt kein Vogel aus dem Nest. B. schlingt den Arm um mich, schützt
mich vor irgendetwas, dem Gestern. Über dem Fenster spult ein Stern sein
Licht ab, hängt’s in unser Zimmer.Rumänien ist fern.
Die Eskimos haben zweiundfünfzig Ausdrücke für Schnee,
weil er für sie wichtig ist. Wir haben für Liebe einen.
SÀMOS 2002
NUR DAS MEER
Wohnen nahe am Ufer, in einem weißen Haus mit roter
Tür. Helle Dachziegel bedecken es in rhythmisch- und farblichem Gleichklang.
Überall Blumen: Oleander in allen Tönen, Marmorweiß bis Rubinrot, Bougainvillea
purpurfarben, tellergroße, porzelanartige Blüten der Magnolie. Palmen pinseln
mit ihren Wedeln den Himmel blau. Ein bisschen Bleigrau ist dabei, das die
Grelle dämpft. In der Nähe des Hauses dekorativ eine alte Ölpresse, festgezurrt
in dieser Liegestuhl-Idylle. Eben der Pedanterie deutscher Geranien entkommen,
gerate ich nun in die süße Lieblichkeit griechischer Vegetation.
Nur das Meer ist ohne Behübschung. Betäubende Helle
über dem Wasser, losgelöst von allem Sein. Der Schatten unter den Talisken,
stets farblos kühl, gebunden an die unabdingbare Notwendigkeit des Lichts.
* * *
ATEMZÜGE
Das Fenster ist offen. Draußen lacht höhnisch und schnell
ein Vogel. Ein winziges Stück Sommer flitzt vom Baum. Ich blicke auf die
letzten Monate zurück: Viel Zeit vertan, einiges zu Ende geführt, an errichtete
Steinhaufen getreten, mich vorangetastet an Neues, Fremdes.