„In zehn Minuten reisen wir ab“


Ilse Hehn

FINISTÈRE

( Bretagne. August 2003)

Zerfressen das Ufer –

wehrhafter Rand der Austernmuschel

Gleich Botschaften krallen Wellen mit spitzen Fingern ins

Fleisch der Felsen toben kämpfen wie Feinde darüber ein spinnenförmiger Himmel der

Dolch Sonne

dort Vögel wie Decksteine reglos auf den Klippen

umarm mich sagst du drückst mein Knie an den Stein wir folgen den Göttern ins Jenseits im Boot unserer Körper ablesbar deine Küsse wie am gefälteten Gneis die Metamorphose des Steins

dickbäuchige Nester der Kormorane an den Klüften der Felswände

Inseln (augenklein) verschwinden im Dunst der ersten und letzten Welle im Gehör des Wassers am

Rand der Erde:

Finistère


wir ergreifen den Mittag das ertrunkene Land – armor Watt und Meer eingescannt in deiner Haut

zärtlich nass unsere Zunge als wär’s ein anderes Leben nicht eingeschlossen im Kern einer Traube in der Haut der Schlüsselblume (matt unter der Oberfläche ängstlich) – wir

Spiel der Gezeiten


die scharfe Klinge der Steine im Brennpunkt flimmernder

Hitze zeichnet das Abbild der Ewigkeit

dieses Gleiten der Kähne gelöst wie unsere Worte

herrenlos frei die Linie der Vögel

Am dünnen Seil hängt der Augenblick, schutzlos unsere Helle die geöffnete Stunde (doch) der Atlantik trägt den Himmel voller Weiterungen vertraut

sich selbst


entflogen die Felder ihr buntes Harlekinskleid

jeder Flicken durch windenüberwucherte Erdwälle gegen den anderen abgesteppt fern der träge Schritt bretonischer Kühe die

dampfende Senke Land –

finis terrae!


Gewohnheiten der Krebse zwischen der kalten Last der Steine

die Küste stößt mit roten Granitzähnen ins Wasser zersplittert Zeit

manchmal bringt das Meer seine Schwächen mit in Gebärden empfindsam als gäb’s einen Beweis für sein Geheimnis als wöge es Licht zerstäubt in stürzendes Silber

*  *  *

Ilse Hehn

STÖRUNGEN

Die Asche zwischen den Küssen

die Asche zwischen den Zehen

die Drogenschachtel zwischen dem Salat

hey, ich kann fliegen!

Ceausescu, der seine Schuhe fickte

ein Lustspiel mit System

Farbe Rot der Manager

Wir waren einfach tot

wir waren ein Insider-Witz

Matrizen sprachloser Jahre

Und die Legenden der Geschichte

um uns Gott zu entwöhnen

das Leben an Drähten

unsere Haut an Drähten

das Kind ein Kelch

der Vater schlürft Wein

Gespenster im Sofakissen

die Mutter spielt Zeitspiele

das Brot weint

 

Die Liebe ist eine Portion Sand

ein Sandhimmel aus

Himmel gemacht du kannst

mich reinlegen

die Maschinerie der Küsse wenn

die Nacht am leersten ist

 

die Liebe schmeckt nach Symptomen

ich sehe so gekürzt in deinen Augen aus

ich wuchere zurück

Liebe ist ein Schattenspiel

Liebe ist ein Kalenderblatt

Rom, 12. 08.1999

1...2...3....und

du bist raus

 
(Rom 1999)

*  *  *

Ilse Hehn

VIA APPIA NOVA ABENDS

 

Zwischen dem Hin & Her San-

tissima Trinità dei Monti und

Spanische Treppe in den Metro-

Tunnel den Bauch Roms gefallen

in die Zwergenwelt der Gegenwart

zu gespenstischen Resten einer

Art Biomüll zusammengeschrumpft

ausgespuckt weitab von Bernini und

Bramante ins schwarze Maul

der Veritá welche auf solch triste

Art die Architektur unserer eigenen

Epoche der Lächerlichkeit preisgibt

 

Der Tag versenkt sich in Ödschaften

unsere handkolorierten Träume

steigen planvoll ins Bild

 
(Rom 2003)

*  *  *

Ilse Hehn

HEI, LIEBE

Das kleine, grausame Tier

als würde es beten, als würde es fluchen

 

Ich untersuche das Fossil

so schäbig, so scheinheilig

die alte schlampige Mythe

keine Erinnerung an Umarmung und mehr

 

Hei, Liebe – ich hab noch

eine Rechnung offen!

 
(Rom 1999)

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Ilse Hehn

EIN WEITES GEFÜHL

Tja, die alte Masche

von Zählen der Blütenblätter, ein Glas Wein auf

der Terrasse, die Nachglut der Küsse über dem Grün.

Ein weites Gefühl dieses Spiel, da wir

zurückfallen in uns und staunen.

Doch wenn ich bedenke

packst du meine Seele am Genick wie ein

dunkler Engel, lässt sie davongleiten

stromabwärts in ihre Mitternacht.

 
(Bretagne 2003)

© Copyright 2007 by Ilse Hehn